Yu Hua: "Brüder"
Eine
tragikomische Geschichte
von der Kehrseite des Wirtschaftsrausches in China
Glatzkopf-Li ist der ziemlich missratene Sohn einer Frau, die in ihrem
Heimatort
dadurch traurige Berühmtheit erlangt hat, dass ihr Mann beim
Versuch, unter
einer Abtrennung in der öffentlichen Toilette hindurch die
Gesäße der Frauen
zu bewundern, abgerutscht und in den Fäkalien ertrunken ist.
Ein freundlicher
Mann versuchte ihn zu retten und brachte dann seinen Leichnam nach
Hause, wo er
ihn wusch, um dann wieder zu gehen. Als Li im Alter von
fünfzehn Jahren
ebenfalls unter der Abtrennung beim Spannen erwischt und dem ganzen
Dorf vorgeführt
wird, scheinen das Unglück und die Scham seiner Mutter
überwältigend.
Aber da tritt der einstige Retter erneut auf und bringt auch seinen
Sohn Song
Gang mit ins Haus, und die beiden Jungen wachsen von nun an mehr oder
minder
gemeinsam heran, durch die Wirren und Katastrophen der Kulturrevolution
und den
in diese Zeit fallenden Tod des Vaters - bis zum Tod der Mutter und dem
Versuch,
nun eigenständig im Leben zu stehen.
Hierbei ist Glatzkopf-Li wesentlich erfolgreicher als sein Bruder, dem
es aber
immerhin gelingt, Lis Traumfrau für sich zu gewinnen, was
zunächst den Bruch
zwischen den beiden Brüdern hervorruft. Ab diesem Moment
laufen deren
Lebensgeschichten eher nebeneinander her als miteinander
verknüpft. Und so
zeigen die Charaktere nach Ansicht vieler Kritiker, zusammen mit einem
wahren
Panoptikum anderer Figuren, die verschiedenen Möglichkeiten,
die Menschen in
China in den letzten 40 Jahren hatten, etwas aus sich zu machen - oder
auch
nicht. Und es zeigt, zu welch absurden Mitteln sie dabei zum Teil
gegriffen
haben.
Vor allen Dingen jedoch glänzen die Charaktere dieses Romans
durch Sturheit.
Song Gang, indem er seinen Bruder und seine Frau in entscheidenden
Momenten
nicht um Hilfe bittet, Glatzkopf-Li, indem er eigentlich nie ein
"Nein" akzeptiert, und Lin Hong, die Frau zwischen den beiden
Brüdern,
die gerne vieles für sich behält und damit die Sache
insgesamt nicht unbedingt
einfacher macht.
Wie so oft bemüht sich auch dieser Roman um epische
Länge, indem er einige
Menschenleben von der Kulturrevolution
bis ins 20.
Jahrhundert
erzählt und
dabei die Hauptprotagonisten mit zum Teil geradezu unfassbarer
Naivität
auftreten lässt. Gerade letzterer Zug erscheint vor dem
Hintergrund anderer
vergleichbarer chinesischer Werke, genau wie die vielen
Ekelbeschreibungen, doch
recht schablonenhaft. Außerdem werden manche "Witze" bis zur
Absurdität
ausgewalzt, was auch nicht immer unbedingt jedermanns Sache ist.
Trotzdem handelt es sich bei "Brüder" insgesamt um ein sehr
interessantes, satirisches Buch mit vorsichtigen Verneigungen vor der
"offiziellen"
Geschichtsschreibung, das sowohl einige spannende als auch belustigende
Einblicke geben kann.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 12/2010)
Yu
Hua: "Brüder"
Übersetzt von Ulrich Kautz.
S. Fischer, 2009. 768 Seiten.
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