Christa Wolf: "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"


Eine deutsche Integrität

In der Tradition des Bekenntnisromans legt uns Christa Wolf in Personalunion Autorin und Erzählerin eine mehrmonatige Lebensbeichte ab. Bei ihrem Aufenthalt in Los Angeles, der ehemaligen Emigrantenkolonie für deutsche Intellektuelle, Anfang der 1990er-Jahre sieht sie sich in mehrfacher Hinsicht in Rechtfertigungs- und Selbstfindungskonstellationen. Es scheint fast so zu sein, als seien alle US-Amerikaner und die übrigen in den USA versammelten Nationalitäten Verdrängungskünstler, während man als Deutscher immer wieder in die Peinlichkeitsecke geschubst wird. Glücklicherweise ist Christa Wolf eine viel zu starke und kluge Frau, um sich in diesen wiederkehrenden Verhörsituationen fixieren zu lassen. In Gesprächen, Träumen und Reflexionen arbeitet sie sich durch ihre persönliche Befindlichkeit sowie durch die Vergangenheit Deutschlands in den entscheidenden politischen Aggregatperioden mit offenem Visier und intelligentem Charme. Dabei klingt die Begründung für die Verleihung des "Uwe-Johnson-Preises 2010" an sie fast nur harmlos: Die Jury urteilt, die Autorin "entwerfe ein faszinierendes Netzwerk, in dem die Ich-Erzählerin einmal mehr alltägliche Begebenheiten, Assoziationen, Erlebnisse, Gefühle und Erinnerungen verwebt". Im Grunde die Zuordnung zu einem eindeutigen Genre verweigernd, spricht Wolf von einem "Gewebe, in das Bestandteile erfahrener Realität eingebunden sind."

Auf Einladung des "Getty-Center for the History of Art and the Humanities" arbeitet die Autorin an ihrem Forschungsprojekt, den Briefen einer gewissen L. aus dem Nachlass einer verstorbenen Freundin. Jene Frau emigrierte aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA, wo sie im sogenannten "New Weimar unter Palmen" untertauchte. Existenz erweist sich im Ansatz immer wieder als eigentliche Krise, als Ringen um wahrhaftige Erinnerung und Wahrnehmung. Insofern wird die Frage nach den Prozentanteilen des Autobiografisch-Authentischen marginal, indem hier fast schon idealtypisch das Überleben in drei deutschen Staats- und Gesellschaftsformen sowie die Auseinandersetzung mit der eigenen Identitätsfindung und der Frage nach dem Verhältnis von Leben und Kunst thematisiert werden. Und man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass die nicht unproblematische Atmosphäre dieser us-amerikanischen Metropole die Hartnäckigkeit der Findung einer persönlichen Integrität eher noch herausfordert und unterstützt.  Was vordergründig wie das Ringen und Beweisen der eigenen Glaubwürdigkeit gegenüber dem Rest der Welt erscheinen mag, baut sich in Wirklichkeit auf zur großartigen Apotheose feminin geprägter Humanität.

Es ist wohl kein Zufall, dass Christa Wolf im März 1993 aus Kalifornien ausgerechnet an Günter Grass schrieb: "Freud hat mal gesagt, in einer milden Depression könne man ganz gut schreiben, also scheint meine Depression milde zu sein, denn ich schreibe, um an diese Person von vor dreißig Jahren noch mal heranzukommen und diese Kälte, dieses Fremdheitsgefühl loszuwerden." Auch Grass hatte ja in seinem Rechtfertigungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel" versucht, an seine früheren Identitäten heranzukommen. Interessant scheint in diesem Zusammenhang auch der Roman "Kennung" einer anderen ehemaligen DDR-Reizfigur, nämlich Hermann Kants, der scheinbar versucht, die Identifizierung eines authentischen Ego zu verweigern. Ebenso wie etliche Kritiker die Betroffenheit bei Grass für unglaubwürdig hielten, musste sich Wolf mit öffentlichen Vorwürfen auseinandersetzen, als Stasi-Mitarbeiterin (sog. IM) tätig gewesen zu sein. Immerhin war sie von 1949 bis 1989 Mitglied in der SED und hatte auch Berichte für die Staatssicherheit verfasst. Andererseits hielt Wolf bekanntermaßen eine Rede am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz auf der größten Demonstration in der Geschichte der DDR. Sie war Mitunterzeichnerin des Offenen Briefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und wurde dafür aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen.

Auf den im Brief an Grass erwähnten Freud wird mit dem Untertitel "The Overcoat of Dr. Freud" Bezug genommen. Bei dem erwähnten "Unterfutter von Dr. Freuds overcoat" dürfte es sich um ein ironisches Bild für das Zurückliegende oder Verdrängte handeln. Interessant etwa, dass die Protagonistin bei ihrer Einreise in die USA im Jahr 1992 ihren DDR-Pass vorlegt und quasi trotzig behauptet, dieses Land existiere noch. Das Buch wird zur intensiven Selbstbefragung, in der sich Christa Wolf als Deutsche und als Person zu positionieren versucht. Sie muss sich der Frage stellen, wann sie gemerkt habe, dass das Experiment DDR gescheitert war. Es mag ja wie eine Flucht wirken, wenn die Protagonistin im letzten Drittel des Buches die USA bereist und sozusagen die Schönheiten des Landes entdeckt und bei ihren Begegnungen mit Indianern die Perspektive quasi für Größeres weitet - wobei dieses Konglomerat unterschiedlichster Historie und Ideologie sowohl die Autorin als auch die Leser zu überfordern droht. Die Lektüre ist teils schleppend, teils verlockend, man möchte tiefer dringen, wird aber sozusagen einigermaßen anspruchsvoll vertröstet. Um im Bild zu bleiben könnte man sagen, der Mantel der Erinnerung und Selbstrechtfertigung erweist sich als verfilzt und undurchdringlich. Das mag aber eben auch der Unterschied zwischen Boulevard und Literatur sein, dass sich eine Autorin um den Preis sogar ihrer Glaubwürdigung dieser Tortur der Selbstdefinition unterwirft. Ist es nicht gerade das Fragwürdige, ja auch das Schwächliche, was uns Personen interessant macht. Die Starken und Perfekten taugen einmal zum Titelhelden, dann werden sie langweilig. Autoren bzw. Figuren wie Christa Wolf bzw. ihr alter ego müssen uns ehrlicherweise beschäftigen, weil wir über das Spezifische hinaus auch das Grundsätzliche erkennen und anerkennen müssen bis zum Erschrecken. Es sind ja die verschiedenen Seelen, die man in sich entdecken kann oder die Trauer über ein kleines oder ein großes Scheitern. Christa Wolf gehört wohl zu den Menschen, die es sich und der DDR nie verzeihen wollen, dass dieses Experiment Sozialismus dermaßen schmählich aus der Weltgeschichte ausgeschieden wurde - denn die Alternativen erwiesen sich als kläglich. Dabei wirkt es wie eine Flucht-Metapher, wenn die Protagonistin mit Hingabe die "Star Trek"-Serie verfolgt aus dem tieferen Eingeständnis, "es war mein Bedürfnis nach Märchen, nach glücklichen Ausgängen, das mich festhielt." In der Realität erlebte Wolf eine komplette Ernüchterung: Die DDR-Bevölkerung hatte mehrheitlich ganz andere Sehnsüchte, als den wahren Sozialismus zu verwirklichen. Dummerweise erliegt die Protagonistin allerdings in den USA der Konsumkultur des angeblich siegreichen Kapitalismus. Sie muss aufpassen, dass sie nicht dem Klischee erliegt, dass auf diesem ganz anderen Planeten US-Amerika bereits das Aussprechen des Wortes "Kommunismus" ein Fauxpas ist.

Ein Buch voller Zweifel sich selbst und jeglichem System gegenüber, eine Suche nach einer Heimat bei anderen Menschen, in einer Umgebung, in einer Ideologie, eine laienhafte Psychoanalyse in einem Prozess zunehmender Sentimentalisierung. Es ist ein Buch über die Kämpfe der letzten Jahrzehnte, aber kein kämpferisches Werk. Die Protagonistin vermeint schon zu Beginn zu erkennen, dass "wir anders, ohne die wohltätige Gabe des Erzählens, nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten." Ein möglicherweise zentraler Satz lässt sie erschrecken: "Das hatte sie vergessen". Dass sie für das selbstzerstörerische System der DDR gearbeitet hatte. Sie wird zur Mittäterin. Sie müsste eigentlich daran zerbrechen. Aber sie schreibt: "Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, mich weniger zu schonen als die anderen. (...) Mir ist klargeworden, daß ich mich als Exempel nehme, also von mir absehe, indem ich mich ganz auf mich zu konzentrieren scheine. Eine merkwürdige gegenläufige Bewegung." Und so kommt durch die quasi abstrakte Erzählhaltung eine doch noch halbwegs konkretisierbare Dialektik in dieses Pendeln zwischen Außen und Innen bzw. zwischen ganz unterschiedlichen Welten. Es ist die "deutsche Zerrissenheit", die sich aus der Vergangenheit des Dritten Reichs oder der DDR speist und die jeden ernsthaft reflektierenden Deutschen zumindest beschäftigen muss. Dabei besteht keine Verpflichtung zur Depressivität, aber das von Christa Wolf sogenannte "Gefühlsgedächtnis" arbeitet dauerhaft und zuverlässig. So wie ein Wissenschaftler sich nicht davor fürchtet, ins Mikroskop zu sehen, glaubt die Protagonistin leben zu müssen "nach einem unsicheren inneren Kompaß und ohne passende Moral, nur dürfen wir uns nicht länger selbst betrügen." Und das bleibt die Frage, inwiefern das Christa Wolf gelungen ist, inwiefern es dem Leser gelingen kann.

Sehr interessant und womöglich aufschlussreich könnte sein, dass sich immer wieder Textzitate aus Paul Flemings "An sich" leitmotivisch durch die Kapitel ziehen. Es ist wohl diese Aufmunterung "Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren", welche sich die Protagonistin mantrahaft memoriert. Und es ist natürlich der Schluss dieses eigentlich gar nicht typischen Barocksonetts, der seit Jahrhunderten aufhorchen lässt: "Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann, / Dem ist die weite Welt und alles untertan." Dieser im abstrakt-philosophischen Raum so überzeugenden Formel steht diametral eine Beobachtung der Mentalität des "Amerikanischen Traums" gegenüber, "warum der hier verbreitete Glaube, daß es für jedes Problem eine Lösung, für jedes Übel eine Abhilfe ... gibt, ein Gefühl von Unwirklichkeit, ja Unheimlichkeit erzeugt und leicht in Irrsinn umkippen kann." Es kommt offensichtlich doch auf die Betrachtungsweise an und auf die Entfaltungsmöglichkeiten des Betrachtenden.

Christa Wolf erkennt in ihrem Schreibprozess genau die Gefahr, dass sie sich zwischen "Selbstzerstörung" und "Selbsterlösung" bewegt. Und dieses Wagnis mitauszuloten, ja mitauszukosten, das sollte es uns Lesern wert sein. Die Verkaufsbestenlisten quellen über mit blöd- und flachsinnigen Elaboraten von Zeitgenossen, die meinen, einmal "ein Buch schreiben" zu müssen. Das hier vorliegende Buch über uns "komisch konstruierte Wesen", die wir Menschen nach Wolfs Ansicht sind, wurde geschrieben "gegen ein erdrückendes Gefühl von Vergeblichkeit". Die Problematik, dass wir womöglich "keine Wahl zwischen Falsch und Richtig haben" zwingt uns geradezu auf eine "Reise auf die andere Seite der Wirklichkeit". Ja, es sollte dieses wiederentdeckte Leitmotiv des "Dennoch-Unverzagt"-Seins sein, welches uns zur Beschäftigung mit diesem Buch animiert.

(KS; 07/2010)


Die Autorin Christa Wolf ist am 1. Dezember 2011 im Alter von 82 Jahren in Berlin gestorben.

Christa Wolf: "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud"
Suhrkamp, 2010. 416 Seiten.
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Hörbuch (Autorenlesung):
Der Audio Verlag, 2010.

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