Rainer Wieczorek: "Zweite Stimme"
Eine Künstlernovelle
Vom
Wolkensammeln und der
Kunst des Archivierens
Es ist eine schicksalhafte Begegnung: Eines Tages trifft der
frühpensionierte
Schriftsetzer Baumeister beim Waldspaziergang auf einen weiteren
Spaziergänger,
der ihm ohne Weiteres von seiner Tätigkeit als
"Spaziergangsforscher"
erzählt. Richard Skala, so der Name des Wissenschaftlers,
nimmt Baumeister mit
in seine Wohnung, die als Beherbergungsstätte seines "Institute
for the
Study of Natural Phenomena" fungiert, und wo er unter Anderem
eine
Sammlung von Wolkenproben in Scheidetrichtern und die
dazugehörigen, beim
entsprechenden "Cloud Walk" zur Probenahme
getragenen Spazierstöcke
verwahrt.
Baumeister sinniert zu Hause auf seiner großen Hofreite
über Skalas Arbeiten
nach, die in so eigenwilliger Weise einen rein wissenschaftlichen,
jeglichen
wirtschaftlichen Anreiz entbehrenden Anspruch mit
künstlerischem Ehrgeiz
verbinden. Und mit der Zeit fasst er den Plan, eine
Außenstelle von Skalas
Institut auf seiner Hofreite zu errichten. Denn Baumeister lebt nach
dem Tod
seiner Frau und dem Auszug der studierenden Tochter allein und
verfügt über
reichlich Platz, woran es Skala wiederum mangelt. Skala ist erfreut
über
Baumeisters Idee.
Und so erhält dieser eine neue Aufgabe, die nur wenig mit
seinem alten Beruf zu
tun hat. Baumeister plant, kauft Materialien und verwandelt eines
seiner Gebäude
in das Richard-Skala-Archiv. Als seine Tochter zu Besuch kommt, erkennt
die
angehende Soziologin den Reiz des Archivs. Sie gibt ihrem Vater
Impulse,
arbeitet mit, macht ihn mit dem eilig angeschafften Computer vertraut
und
ermutigt ihn, systematisch vorzugehen.
Skala eilt gleichsam voraus mit neuen Ideen und Projekten, und sein
Archivar
bereitet nach, sortiert, stellt aus, bietet Skala eine
sorgfältig aufgebaute
Infrastruktur, bis das Archiv eine Art Eigenleben gewinnt und nicht nur
Skalas
Arbeiten beherbergt, sondern zugleich auch das Beste von Baumeister
verkörpert.
Arbeit ist der zentrale Aspekt in dieser Novelle - zum Einen die reine,
am Markt
ausgerichtete Erwerbsarbeit, wie sie Baumeister früher
geleistet hatte, bevor
er überflüssig wurde und sich darauf
beschränkte, seinen großen Hof in
Ordnung zu halten und etwas Obst und Gemüse
für
den
Eigenbedarf anzubauen. Ein
Mausoleum ist die Hofreite geworden, in dem Baumeister die Erinnerungen
an die
verstorbene Frau und die ferne Tochter lebendig zu erhalten versucht.
In
gewisser Weise ist der Hof zu dieser Zeit schon ein Archiv.
Die befruchtende Begegnung mit Skala bringt einen neuen Baumeister zum
Vorschein. Als Schriftsetzer ist Baumeister das Künstlerische
natürlich nicht
fremd, und ihn fesselt Skalas Arbeit, die eine gänzlich andere
Natur hat als
seine eigene: aus finanzieller Sicht sinnlos und dennoch
sorgfältig geplant und
systematisch ausgeführt.
Ohne seine Tochter Paula wäre Baumeister bald an seine Grenzen
gelangt. Sie,
die die Arbeit des 21. Jahrhunderts wissenschaftlich untersucht und
diese
gewissermaßen auch verkörpert, verleiht dessen Tun
die notwendige Effizienz
und hilft ihm zugleich, seine Abgeschlossenheit, sein Mausoleum
aufzugeben,
indem sie ihn ermutigt, Elemente aus den erinnerungsbehafteten
Räumen ins
Archiv zu integrieren, wo sie eine Funktion erfüllen, statt zu
verstauben.
Skala, der Wolkenproben sammelt und Geräusche des
Waldes,
etwa
aus einem
Ameisenhaufen, aufnimmt und die resultierende Platte
verschweißt, damit das
Original, wenngleich nie zu hören, rein erhalten bleibt;
Baumeister, der ihm
zunächst scheinbar dient und dann eine Kreativität
entwickelt, die zu einem
regelrechten Eigenleben seiner Arbeit führt; Paula,
unterstützend und die
Zukunft im Blick: Diese drei Protagonisten erleben Sinn in ihrer
Arbeit, einen
Sinn, der erst aus der Arbeit selbst geboren wird.
Und so vermag dieses Buch im Leser Fragen aufzuwerfen -
Sinnfragen,
wenn man so
möchte. Es bietet aber einem Leser, der sich darauf
einlässt, auch Antworten.
Und diese machen Mut.
(Regina Károlyi; 06/2010)
Rainer
Wieczorek: "Zweite Stimme. Eine Künstlernovelle"
Dittrich Verlag, 2009. 138 Seiten.
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