Günter Wels: "Maitage"
"Was
dann nachher so
schön fliegt ...
wie lange ist darauf rumgebrütet
worden."
Die sieben Erzählungen dieses Debüt-Werkes von
Günter Wels handeln vom
Erwachsenwerden. Hier hat ein Schriftsteller, nicht nur bei der Lesung
in
einer Wiener Buchhandlung, die Ärmel hochgekrempelt. Die
Erzählungen, im
Czernin Verlag in Wien erschienen, wirken meisterlich konstruiert,
bestechend
präzise ohne pedantisch abzugleiten. "Was dann
nachher so schön fliegt
... wie lang ist darauf rumgebrütet worden" (Peter
Rühmkorf). Die saloppen Ausdrücke der
Heranwachsenden - lockig, flockig
hingefletzt, dürften über die dahinter stehende
Knochenarbeit hinwegtäuschen.
Der künstlerische Anspruch hinter den Geschichten ist hoch.
Warum hat man von
diesem Schriftsteller noch nichts gehört? Das Rätsel
ist schnell gelüftet.
Hinter dem Namen Günter Wels verbirgt sich der renommierte
Literaturkritiker,
Journalist und Fernsehmoderator Günter Kaindlstorfer. Wie ein
Fisch im Wasser
bewegt er sich seit Jahren zwischen
Günter
Grass, Peter Rühmkorf,
Daniel
Kehlmann und
Henning
Mankell. Freundschaftlich verbunden ist er mit
Schriftstellern wie Franzobel
und Doron Rabinovici.
Ist es der großartige Literaturkritiker, der sich aufmachte,
Dichter zu werden,
oder war es der Dichter, der zum umtriebigen Journalisten wurde?
Warum das Spiel mit einem Pseudonym? Möchte sich der
Schriftsteller vom
Literaturkritiker abheben? Wir kennen die Lust am Namensspiel auch von
anderen
oberösterreichischen Künstlern. Hinter Franzobel
steckt Franz Stefan Griebl
aus Pichlwang. Franz Welser-Möst hat die Stadt Wels, in der er
aufgewachsen
ist, gleich in seinen Namen eingebaut. Bald wird sich vielleicht auch
Christoph
Ransmayr als Pseudonym herausstellen.
Die Bezeichnung Wels ist wahrscheinlich keltischen Ursprungs und
bedeutet
vermutlich so viel wie "Siedlung an den Traunwindungen". An den
Flusswindungen des Erwachsenwerdens in den siebziger Jahren hat
Günter Wels
auch seine Geschichten angesiedelt. Die Schauplätze liegen
beispielsweise an
der Cote d'Azur, in einem Grieskirchener Mädcheninternat, in
einem Welser
Freibad. Ein Protagonist erlebt die ersten Friedenstage 1945, andere
geraten
1934 in die blutigen Auseinandersetzungen zwischen SA und Heimatschutz
in der
Steiermark. "Die Schauplätze wechseln, aber die
Dramen des
Erwachsenwerdens bleiben im Wesentlichen die gleichen", meint
Günter
Wels.
Erwachsenwerden in den 1970er- oder frühen 80er-Jahren? Wie
darf man sich den Schriftsteller Günter Wels in dieser Zeit
vorstellen?
Menschen, die ihn damals erlebt haben, berichten von einem schlaksigen,
sich cool gebenden Intellektuellen in Latzhose,
der die Unsicherheiten eines Heranwachsenden mit Lässigkeit
überspielt. An Tagen von wichtigen Spielen der "Wiener
Austria" ist er eine violette Erscheinung. Die
Leichtfüßigkeit des Fußballspiels der
Mannschaft in diesen Jahren prägt ihn auch sonst und
hinterlässt ihre Spuren in seinem Schreibstil. Im
Fußball und im Schreiben ist er damals wohl dem Mittelfeld
zuzuordnen, wenn ihn nicht gerade die Lust zum
Fußballkommentieren überkommt. Der Jugendliche ist
an Literatur, Sport, Religion und Politik interessiert. Mit diesem
Rundumblick hilft er beim Fußballspiel hinten aus, hat aber
auch einen starken Drang, nach vorne zu spielen. Manchmal trifft man den
Heranwachsenden im Hof des alten "Cafè Urbann" in Wels,
neben sich Feuerbach und Bibel liegend. Nachmittags diskutiert er
gelegentlich im Kino "Greif" oder arbeitet mit Freunden im
"Ledererturm" am Hauptplatz an der neuesten Ausgabe einer
Schülerzeitung. Den Mädchen begegnet er vorerst noch
etwas spröde.
Einige Erzählungen aus dem Buch "Maitage" werden im
Folgenden
etwas genauer unter die Lupe genommen.
Die längste Geschichte des Buches heißt "Epitaph auf
Mike". Sie hat
die Tendenz zu einem eigenen Buch. Günter Wels öffnet
leichtfüßig, kühl und
herzzerreißend den Vorhang zu einer Bühne im
Schülermilieu. Rund um die
Schülerzeitung "Etcetera" spinnt sich ein Netz von Redakteur,
Redakteurinnen und Bekannten. Da ist Didi Achleitner, der gleich zu
Beginn den
Klugscheißer raushängen lässt. Und da ist
Mike, "ein introvertierter
wirkender Schlaks mit braunem, halblangem Haar und einem weiten
schlackernden
Sakko". Er wird einen langen Schatten in diese Geschichte
werfen und in
die folgenden Jahrzehnte. Die Erzählung versucht zu
rekonstruieren und zu
erinnern, was sich in einem Schülermilieu in wenigen Monaten
zugespitzt hat. "Literatur
muss weh tun, wenn sie etwas taugen soll", sagte der
Literaturkritiker
Günter Kaindlstorfer in einem Text über das Buch
"Nachwelt" von
Marlene
Streeruwitz. Gekonnt und intelligent, liebevoll und
kühl entwirft der Autor
ein buntes Kaleidoskop von Figuren und Orten. Wäre da
bloß nicht dieser Spalt,
durch den dunkles Licht fließt. "Ich betrachtete
das
Jim-Morrison-Poster auf der Dachschräge über dem
Bett. Das berühmte Foto:
Morrison mit Christusblick und nacktem Oberkörper. 'Der hat es
genau richtig
gemacht', sagte Mike, der meinem Blick mit den Augen gefolgt war. 'Der
hat den
Spießern die Arschkarte gezeigt.' "Allerdings ist er dabei
draufgegangen',
meint seine Freundin."
In der Geschichte "Summer of 76" wird der Protagonist zur ersten
Garagenparty seines Lebens eingeladen. Dem chronisch
schwächelnden Ego des "verschüchterten
Schlankels" tut das gut. Die sechzehnjährigen
Mädchen sind für ihn
noch Bewohnerinnen einer anderen Galaxie. "Für die
war ich so
interessant wie der Tischtennistisch mit kaputter Netzhalterung ...".
In der Gruppe gibt es einen Cliquen-Boss, der die Anfangstakte von "Smoke
on the water" rülpsen kann und "jede
Zündapp innerhalb
kürzester Zeit so auffrisieren konnte, dass ihr Besitzer
mühelos mit neunzig
über die Landstraße in Richtung Scharten
hinausbrettern konnte".
Musikalisch sind dem Protagonisten von zu Hause Fred Bertelmann und die
"Linzer
Buam" vertraut. Beim Garagenfest stößt er auf "The
Who" und die
"Grateful Dead", die zum Geknutsche die dröhnenden
Bässe aus dem
Kassettenrekorder liefern. Aus einem "Bravo"-Heft kennt er die Kunst
der Verführung: "Man fordere ein Mädchen
zum Tanzen auf und ... blicke
ihr so lange in die Augen, bis sie in den Armen des Tänzers
dahinschmilzt wie
Butter in der Sonne". Mit der neu gewonnenen Freundin und
ihrer Clique
verbringt er den Sommer in Schottergruben und
im
Freibad mit dem imposanten Sprungturm. Leicht irritiert
beobachtet er die
Welt der Kopfsprünge, Kerzen und "Hagerl":
"Während
des Flugs deutete Harry koitusähnliche Bewegungen an, zwei,
drei Stöße mit
dem Becken. Dazu öffnet er lustvoll den Mund. Kurz vor dem
Aufprall klappte er
sich zu einem sogenannten 'Packerl' zusammen, damit seine Weichteile
nicht in
Mitleidenschaft gezogen wurden."
Irgendwann hat der Protagonist den Sprungturm, das Geknutsche und ewige
Händchenhalten satt. Erste verlogene Gesten schleichen sich in
die Beziehung
ein. Er sehnt sich ein wenig danach, Kind sein zu dürfen, mit
Freunden Fußball
zu spielen und Landkarten von Südamerika abzupausen.
In der Geschichte "Maitage" erlebt Hartmut, ein Jugendlicher, 1945 die
ersten Friedenstage in einer Kleinstadt in den Bergen. Der Hauptplatz,
vor
einigen Jahren in Adolf-Hitler-Platz umbenannt, ist weiß
beflaggt. "Ein
bisschen nachlässig, fast lümmelhaft latschen die
Invasoren über den
Hauptplatz." Das Scheppern, Rumpeln und Rasseln der Panzer
ist zu
hören. "Die handgeschliffenen Kristalle des
böhmischen Lusters über
dem Esstisch begannen leise zu klirren. Hartmut legte den
Löffel beiseite,
horchte. Seine Mutter aß mit unbewegter Miene weiter."
In Hartmuts
Spielzeugkasten befinden sich noch Figuren von Panzergrenadieren und
Artilleristen, eine Schwadron Reiter-SA, auch ein paar automatische
Blechpanzer.
Ein tarnfarbener "Marder" mit eingebauten Feuersteinen sprüht
Funken
aus dem Geschützrohr.
Hartmut streunt an diesem Tag durch die Stadt, bedankt sich bei einem
amerikanischen Soldaten für ein Päckchen Kaugummi mit
"sänks very
matsch".
Alles ist verändert. Nur im Garten hinter dem Haus, bei den
Kaninchenställen,
gibt es einen Ruhepunkt. "Seltsam dachte Hartmut, hier im
Garten war
alles genauso wie gestern. Sonst hatte sich alles geändert. Er
schubste Lauser
in den Hasenstall zurück, rupfte noch ein Büschel
Gras aus und schob es ihm
hinein, dann riegelt er den Verschlag ab. Langsam ging er
zurück in sein
Zimmer."
Mit der Beschreibung der historischen Details in den beiden Geschichten
"Maitage"
und "Der Postautobus" gelingt dem Schriftsteller ein kleines
Kunstwerk.
Günter Wels versteht es, mit wenigen Sätzen Figuren
zu skizzieren, sie
lebendig werden zu lassen. In der Erzählung "Der Postautobus"
gelingt
ihm das in atemberaubender Schnelligkeit. Die Stärke, den
Figuren ihre
Eigenständigkeit zu belassen, ihnen die Worte nicht in den
Mund zu legen,
sondern sie selber zum Sprechen zu bringen, diese Qualität
teilt Wels mit dem
Journalisten Kaindlstorfer. 1934 kommt es in der Steiermark zwischen SA
und
autoritär-katholischen Heimatschutz-Aktivisten zu blutigen
Auseinandersetzungen.
Die Ereignisse überschlagen sich in den beiden Geschichten
"Maitage"
und "Der Postautobus". In beiden Erzählungen gibt es einen
winzigen
Ruhepunkt. In der einen ist es der Garten hinter dem Haus mit dem
Kaninchenstall. In der anderen ein Katzenauge, ein kleiner Stein: "Er
griff in die Hosentasche, um nach einem Taschentuch zu suchen, nach
irgendetwas,
mit dem er die Blutung stillen konnte. Er fand nichts ... Da
spürte er etwas
Glattes, Ovales in der Tasche. Er holte den Gegenstand hervor,
betastete ihn,
umschloss ihn mit den Fingern, ballte die Hand zur Faust .... Er machte
die Hand
wieder auf, starrte auf den Gegenstand, der ihm da entgegenschimmerte:
Es war
das Katzenauge, das Jakob ihm gegeben hatte." Diese Stellen
erinnern in
ihrer Intensität an den holländischen Schriftsteller Harry
Mulisch.
Foto: Gregor Lingl, Lesung in Wien |
Nach einer Lesung von Günter Wels trafen
sich noch einige Zuhörer mit dem Autor in einem Lokal. Das
gerade Gehörte hatte bei allen Erinnerungen geweckt. Die
Geschichten sprudelten nur so in der Runde. Das ist auch so eine
Nebenbei-Wirkung dieser Erzählungen. |
(Hans Zank; 11/2010)
Günter
Wels: "Maitage"
Czernin Verlag, 2010. 274 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Lien zur Netzpräsenz des Autors: https://www.kaindlstorfer.at.