Daniel Furrer: "Geschichte des stillen Örtchens"
Luis
Buñuel hat mit "Das Gespenst der Freiheit" einen Film
geschaffen, der mit gesellschaftlichen Konventionen spielt und diese
satirisch überhöht. Eine Szene zeigt Menschen, die
sich zum gemeinsamen Stuhlgang einfinden. Dieselben Menschen ziehen
sich zum Essen in die Einsamkeit zurück.
Was dem zu besprechenden Büchlein fehlt, ist ein Hinweis auf
Kunst und Literatur. Die Geschichte des Örtchens ist
tatsächlich dahingehend still, dass sie aus historischen
Romanen (übrigens bis in die Gegenwart hinein) nicht oder nur
sehr bedingt nachvollzogen werden kann. Es müssen
Sachbücher und Berichte von Zeitzeugen herangezogen werden, um
eine gute Darstellung der Entwicklung des Örtchens zum stillen
Örtchen zu leisten. Umso interessanter ist es, dass eine
Bibelstelle (Altes Testament) zitiert wird, die Licht ins Dunkel eines
weitgehend tabuisierten Themas bringt:
"Auch sollst du außerhalb des Lagers einen abseits
gelegenen Ort haben, zu dem du hinausgehst. Ferner musst du unter
deinen Geräten einen Pflock haben. Wenn du also hinausgehen
und austreten musst, dann grabe ein Loch und decke deinen Unrat wieder
zu. Denn der Herr, dein Gott, geht in deinem Heerlager umher, um dir zu
helfen und deine Feinde zu unterwerfen. Darum sei dein Heerlager
heilig; er schaue bei dir nichts Widerliches, damit er sich nicht von
dir zurückziehe" (5. Buch Moses, Deuteronomium,
Kapitel 23, Vers 13 bis 15)
Im Grunde lässt sich die "Geschichte des stillen
Örtchens" auf zwei wesentliche Aspekte hin beziehen: Auf Scham
und Hygiene. Während im alten Rom die gemeinsame
Benützung von Latrinen - zumindest für gewisse
Bevölkerungsschichten - selbstverständlich war, haben
die Kartäuser-Mönche von jeher darauf Bedacht
genommen, ihre natürlichen Geschäfte unter Ausschluss
der Öffentlichkeit zu tätigen. Ludwig XIV. hat wie
selbstverständlich auf dem "Thron" Platz genommen, wenn er das
Bedürfnis verspürte, sich zu erleichtern, und hierbei
weiter Gäste empfangen. McClean-Toiletten
(das soll jetzt keine Schleichwerbung sein) befinden sich in
Bahnhöfen (in der Schweiz, aber auch in Teilen Deutschlands
und Frankreichs). Die Kabinen sind vollständig geschlossen,
und es sind keine Geräusche von Nachbarn zu vernehmen. Zudem
sind diese Klos sehr geräumig, blitzblank und duften frisch.
Im Mittelalter
(und freilich vorher) war es üblich,
öffentlich natürliche Geschäfte zu
erledigen. Das berühmte Kippen der Nachttöpfe aus den
Fenstern ist auch kein Märchen. Der Grund für die
Installierung von Toiletten in Wohnhäuser war in erster Linie
eine hygienische Maßnahme. Damit sollten Fäkalien
(und Urin) sozusagen "von der Straße" geholt werden.
Schließlich hatte Sir John Harrington die Idee einer Toilette
mit Wasserspülung, deren präzise Anleitung zweifellos
eine Revolution ausgelöst hat. Es war im Jahre 1596, und es
geschah im Auftrag von Königin
Elisabeth
I. Er war seiner Zeit
jedoch voraus. Erfolg blieb ihm versagt, und so dauerte es fast
zweihundert Jahre, bis Alexander Cummings im Jahre 1775 das Patent
für die Ausführung eines Wasserklosetts erhielt.
Das Wasserklosett kann durchaus als Luxusgut bezeichnet werden. Die
Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten kann jedenfalls heute nicht
auf dieses "Rückzugsgebiet" zugreifen. Und die
Jugendstiltoilette am Graben
in
Wien, die vom "ADAC"-Führer
als "schönste öffentliche
Bedürfnisanstalt der Welt" ausgezeichnet wurde, ist
ebenso ein Kuriosum wie die insgesamt 58 Millionen Dollar wertvollen
zehn mit Marmorböden und Art-deco-Verzierungen ausgestatteten
Toiletten in U-Bahn-Stationen in Los Angeles.
"Die Geschichte des stillen Örtchens" zeigt zudem, dass -
keineswegs eine Überraschung - sich die reicheren
Gesellschaftsschichten allerorts leichter tun, ihr Geschäft im
Sinne eines gewissen "Luxus" zu erledigen. Die gesellschaftlichen
Unterschiede brachten und bringen es mit sich, dass auch nicht jeder
Bürger eine öffentliche Toilette aufsuchen kann. Bis
in die 1950er-Jahre hinein war es übrigens keineswegs
üblich, dass jeder Haushalt in Europa über ein
eigenes Wasserklosett verfügte.
Es ließe sich von der "Geschichte des stillen
Örtchens" allerlei erzählen, aber Sie können
sich gerne Zeit nehmen, darin zu blättern. 29 Prozent der
Menschen in Europa sollen übrigens der
Zeitungslektüre frönen, während sie auf dem
"Thron" sitzen. Ob sich das bald zu Ende besprochene Büchlein
als Klolektüre eignet, mag jeder gewillte Leser für
sich selbst austesten.
Die Entwicklungsgeschichte der Toilette ist natürlich noch
lange nicht zu Ende. Wenn schon nicht jedes Kind auf dieser Welt ein WC
benutzen kann, so ist es allemal ein wichtiges Ziel, die hygienischen
Verhältnisse weltweit dahingehend zu verbessern, dass keine
für Menschen lebensbedrohenden Krankheiten ausbrechen
können.
Einfach ein Loch graben und das Ergebnis des natürlichen
Geschäftes hernach zuschütten, ist an allen
möglichen Orten der Erde bis heute gelebte Praxis. Wir
Wohlstandsbürger sollten uns bewusst sein, dass
wassergespülte Toiletten Luxusgüter sind und
zumindest darauf Bedacht nehmen, nicht zu viel kostbares Wasser bei den
- statistisch belegten - 3,4 bis 5,7 Spülgängen pro
Tag zu verschwenden.
(Al Truis-Mus; 04/2010)
Daniel
Furrer: "Geschichte des stillen Örtchens"
Primus Verlag, 2010. 96 Seiten.
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Daniel
Furrer, Historiker,
Publizist und Fotograf mit Liebe zum Detail, lebt und arbeitet in der
Schweiz.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen
Örtchens"
Ein zutiefst menschliches Bedürfnis und wie man sich seiner
entledigt(e) - von
der Antike bis in die Gegenwart: das ist das Thema des Buches, mithin
ein Stück
Alltagsgeschichte, das meist übergangen wird. Obwohl die
Toilette ein Produkt
der menschlichen Kultur ist, das die Forschung in verschiedenen
Disziplinen
beschäftigt (man denke an Ausgrabungen früher
Hochkulturen, die bereits die
Wasserspülung kannten), gibt es bis heute keine eigene
Kulturgeschichte des
stillen Örtchens.
Daniel Furrer fragt nicht nur danach, wie die Notdurft in verschiedenen
Epochen,
Gesellschaften und Schichten verrichtet wurde, sondern geht auch den
vielfältigen Fragen nach, die sich im unmittelbaren Kontext
aufwerfen: sei das
die Frage nach der Scham, nach den gar nicht so feinen sozialen
Unterschieden,
nach hygienischen Problemen, nach Fortschritt und technischen
"Errungenschaften", nach Ökonomie und
Ökologie. Dabei
legt Furrer
den Schwerpunkt seiner Darstellung zeitlich auf die Neuzeit,
geografisch auf den
europäischen Raum. (Primus Verlag)
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