Angel Wagenstein: "Leb wohl, Shanghai"


"In dieser Zeit [vor der Reichskristallnacht, Anmerkung C.Z.] kursierte folgender Witz: Auf die Frage ausländischer Journalisten, welches das Ziel seiner Politik sei, erklärte Adolf Hitler: 'Die Vertreibung aller Juden aus Deutschland sowie des italienischen Tenors von der Oper.
'Wieso denn der Tenor,' fragte der Korrespondent des Figaro.
'Hab ich's doch gewusst', seufzte Hitler erleichtert, 'dass die Vertreibung der Juden bei der Weltöffentlichkeit keinerlei Reaktion hervorrufen würde.'"


Dieser 2004 erstmals in Sofia erschienene Roman des bulgarischen Autors Angel Wagenstein greift eines der schwergewichtigsten Themen der Literatur des 20. Jahrhunderts auf: Den Zweiten Weltkrieg und seine sich entspinnenden Wirren, gespiegelt und erzählt durch die Augen einzelner Schicksale, das ist der Ton, den der 1922 geborene Sohn einer jüdischen Handwerkerfamilie anschlägt.

Hilde Braun ist eigentlich Jüdin. Doch aufgrund ihres arischen Aussehens hat sie bereits in jungen Jahren einen anderen Namen angenommen und kann durch ihr auffällig schönes Äußeres den Weg als Fotomodell aus Deutschland nach Paris schaffen. Da sie aber auch dort irgendwann ob der klammer werdenden Situation für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung (und Hilde mit ihrem stillen jüdischen Geheimnis) verschwinden muss, fährt sie über mehrere Umwege und in nicht unopportunistischen Aktionen auf einem der letzten Schiffe nach Shanghai.
Das, was Hilde widerfährt, wird mit dem (Er-)Leben des Juden und Geigenvirtuosen Theodor Weisberg und seiner nichtjüdischen Frau Elisabeth Müller-Weisberg in Opposition gesetzt. Theodor scheint die Gutmütigkeit in Person zu sein. Er lebt sein Leben im Glauben an die Gerechtigkeit. Als er am 9. November 1938 nach dem Konzert im Festsaal der Dresdner Philharmonie - hinter den Kulissen werden Einer nach dem Anderen die jüdischen Musiker von dorthin befehligten Nationalsozialisten abgeführt - spurlos verschwindet, weiß Elisabeth genau, was sie tun muss, um ihren geliebten Mann wiederzubekommen ...

"Theodor Weisberg war ein zart gebauter Mann mit ausgesuchten Manieren, aufmerksam gegen jedermann. Seine ganze Art, sich auszudrücken, sein ganzes Benehmen verrieten die gute bürgerliche Erziehung, die er in seinem Elternhaus, dem Haus eines erfolgreichen Rechtsanwalts, genossen hatte. Die groben und nicht selten deftigen Witze, die vor allem die Arbeiter, Handwerker und Bergarbeiter unter den Lagerinsassen rissen, verletzten ihn, so dass er sich abkapselte und von ihnen für hochnäsig gehalten wurde. Doch er war alles andere als arrogant; er konnte nur nicht aus seiner Haut und war unfähig, sich in etwas anderes zu fügen als das, was sein Schicksal war: die Musik."

So führt auch das Ehepaar Weisberg der vermeintlich rettende Weg nach Shanghai. Man schlägt sich dort mit Gelegenheitsarbeiten durch, doch irgendwann scheint auch dort der schützende Anker der Fremde an Bodenhaftung zu verlieren. Auch in Shanghai soll auf Befehl des Deutschen Reiches ein Ghetto für Juden errichtet werden.

Man könnte sich natürlich in der Fülle der Geschichten zum Thema des Zweiten Weltkrieges fragen, was dieser Roman einem Neues nahezubringen vermag. Der gekonnte Wink des Buches ist vor allem, dass kein singulär zur Debatte stehendes Einzelschicksal inmitten der gräulichen Geschichtsschreibung geschildert werden möchte, sondern - inmitten einer großen Zahl von geschichtswissenschaftlich anmutenden Erklärungen und Sondierungen der Lage in den Enddreißigerjahren bis 1945 - eine die unendlich komplizierten Verwicklungen - ähnlich der russischen Matrioschka - darstellende Erzählung vor den Augen des Lesers sich eröffnet und dies in einem Ton, der im Jahre 2004 durchaus ein wenig altbacken anklingen mag, es aber doch so gar nicht ist, weil die Darstellung Wagensteins überzeugen kann.

Der Erzähler spricht in einem allwissenden und rückblickenden Ton von der allgemeinen Situation unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die bei Weitem nicht innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches sich beschränkte, sondern auch im doch so weit entfernten Shanghai letztlich ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen hatte. So changiert der weitblickende Erzähler von einer Figur zur nächsten und beleuchtet deren Gedanken und Leben insoweit, wie es für den die grundlegende Situation verstehen wollenden Leser vonnöten scheint. Dabei entsteht unter der althergebracht scheinenden Stimme eines aus der Vogelperspektive Sprechenden ein weitläufiges Panorama menschlicher Verwicklungen in chronologischer Erzählführung, das jedoch im Jahr 1945 seinen Ausgangspunkt nimmt:
Theodor Weisberg tritt nach der Kapitulation Japans 1945 in einer "nach Sumpf und verfaultem Fisch stinkenden Fabrikhalle" als Konzertmeister auf die Bühne. Man spielt Joseph Haydns Sinfonie Nr. 45, "genannt Abschiedssinfonie".

Stilistisch kann dieser Roman von Wagenstein den geübten Leser nicht aus der Reserve locken, doch das, was er zu erzählen hat, überzeugt und ist in seiner sich aufrollenden Tiefe ein gut recherchiertes Stück Literatur, das in der Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann erschienen ist und die zwei großen Leidenschaften der Literaturkritikerin zusammenbringen möchte: Musik und Literatur.
Für denjenigen Leser, der eine realistisch aufbereitete und im großen Stil der Erzähler des 19. Jahrhunderts geschriebene Geschichte sucht, ist dieses Buch genau das richtige. Hier kann man sich fallenlassen, sich in eine bitter-süße, durchaus traurige und mit einigen unvorhergesehenen Wenden daherkommende Geschichte hinein lesen.

(Christin Zenker; 06/2010)


Angel Wagenstein: "Leb wohl, Shanghai"
(Originaltitel "Sbogom Shanghai")
Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm.
Edition Elke Heidenreich im C. Bertelsmann Verlag, 2010. 350 Seiten.
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