Mark Twain: "Knallkopf Wilson"


Schwierige Identitätsfragen

Zum 100. Todestag von Mark Twain (1835-1910) erscheint hier in der "Manesse Bibliothek der Weltliteratur" ein "Fundstück", will heißen ein von der Literaturwissenschaft und den Lesern gleichermaßen vernachlässigter Roman dieses Autors, den man gerne auf seine Mississippi-Vergangenheit und seine beiden Lausbuben-Geschichten über Tom Sawyer und Huckleberry Finn reduziert. Der vorliegende Roman (im Original 1894 unter dem Titel "Pudd'nhead" erschienen) liegt nun neuerlich in der Übersetzung aus dem US-Amerikanischen von Reinhild Böhnke vor und scheint alle Klappentextklischees zu erfüllen, die für den landläufigen Leser geprägt wurden: der Roman bietet "haarsträubende Verwicklungen" und eine "einzigartige Mischung aus witziger Unterhaltung und beißender Kritik an Standesdünkel und amerikanischem Südstaatenrassismus". Interessant scheint ja, dass Mark Twains (respektive Samuel Langhorne Clemens') Eltern anfangs selbst noch eine Sklavin hielten (die sie dann verkaufen mussten) und dass Twain etwa durch Harriet Beecher-Stowe in seiner negativen Haltung zur Sklaverei bestärkt wurde.

Das Buch hat eine eher vordergründige Handlung mit Ingredienzien des gehobenen Unterhaltungsromans. In dieser burlesken Kriminalkomödie gerät der Jurist David Wilson in seinem Provinzkaff Dawson's Landing durch seinen schottischen Humor und seine Herkunft von der Ostküste in den Ruf, ein Kauz, ein "Knallkopf" zu sein. Dabei verfolgt er ein ernsthaftes Hobby, indem er Fingerabdrücke sammelt und analysiert und das Handlesen praktiziert. Freilich erweist es sich, dass es noch einige interessante Gestalten in dem Kleinstädtchen gibt: Roxy, die Sklavin mit der hellen Haut; deren Sohn Chambers und Ziehsohn Tom, die Roxy als Säuglinge absichtlich vertauscht hat und an deren Lebenswegen sich nun quasi reziprok das Theoriengewirr aus Vererbung und Milieu studieren lässt; und als wäre das nicht schon Stoff und Verwirrung genug auch noch die florentinischen Zwillinge Angelo und Luigi Capello. Verwechslung und Rollentausch sind also eigentlich die ernsthaften (soziologischen) Themen, Betrug und Mord bieten quasi nur die unterhaltsame Folie dazu.

Untersucht man die Genese dieses Romans, so stellt sich heraus, dass Twain sich eigentlich mit der Problematik der Identität herumschlug - und das in dem Dunstkreis südstaatlicher Sklavenhaltermentalität. Twain war fasziniert von Zwillingen, er hatte speziell Kenntnis von siamesischen Zwillingen und deren Lebenspraxis. Er schrieb eine "Komödie der außerordentlichen Zwillinge", nachdem er im Jahre 1891 von den siamesischen Tocci-Zwillingen gehört hatte. Dabei ging es ihm um den Konflikt zweier Persönlichkeiten in einem Körper. Die Geschichte veränderte sich nach seinen eigenen Worten von einer Farce zu einer Tragödie, als sich die Figuren Pudd'nhead Wilson und Tom Driscoll quasi verselbstständigten.

Ebenso beschäftigte ihn der Einfluss der Rasse auf das menschliche Verhalten, welches Problem etwa ein gewisser Dr. Paul Barringer von der Universität Virginia untersuchte. Wilson erscheint das "schwarze Blut" von Roxy als unheilvoll, und Roxy selbst hat die gesellschaftlichen Vorurteile so sehr internalisiert, dass sie seine "Schlechtigkeit" darauf zurückführt, dass er "zum Teil Neger" ist. In den 1890er-Jahren war die Auffassung, dass "schwarzes Blut" den Charakter negativ beeinflussen konnte, in Mark Twains Umgebung sehr verbreitet. Bestimmte rassische Merkmale wurden als erblich angesehen, und rassische Minderwertigkeit galt als empirisch belegt. Twain hat immer wieder beschrieben, wie kulturelle Konditionierung die Identität und das Schicksal eines Menschen bestimmen. Wilson spricht bei Tom von dessen "angeborener Schlechtigkeit", worin sich die damalige Rassismustheorie spiegelt. Die 1890er-Jahre werden als einer der Höhepunkte der Rassenverfolgung in den Vereinigten Staaten von Amerika gesehen - manche Kritiker fragen sich, welchen Standpunkt Mark Twain dazu eigentlich wirklich einnahm.

Twain hatte auch Kenntnis von Francis Galtons (einem Cousin von Charles Darwin) Untersuchung über "Fingerabdrücke", in welcher jener der Frage nachging, ob sich rassische Unterschiede in selbigen feststellen ließen. Als Wilson die Fingerabdrücke in der Gerichtsverhandlung benutzt, um die wahren Identitäten von Tom und Chambers nachzuweisen, beruft er sich in gewisser Weise doch auf rassische Merkmale. Auch hier bleibt ein gewisses Unbehagen über Twains tatsächliche Position.

Aus diesem Konglomerat jedenfalls baute sich Twain seinen Roman zusammen, um den herum es noch einige Geschichten gibt, die sich jeweils mit Teilaspekten beschäftigen. Interessant ist noch, dass Twain offensichtlich auch Arthur Conan Doyles erste Detektivgeschichten kannte und eine Art Persiflage darauf zu schreiben gedachte. Ebenso wie Zwillinge faszinierten Twain Detektive. Wenn Wilson den Mord Toms an seinem Onkel aufdeckt, rettet er die soziale Ordnung, welche durch Roxys Kindertausch und Toms Mord verletzt wurde. Diese Ordnung ist allerdings jene der Sklavenhaltergesellschaft. Auch diesbezüglich ist sich die Kritik nicht einig gewesen, ob dieser Roman nun eindeutig antirassistisch oder doch zumindest unterschwellig rassistisch eingestuft werden musste.

Die Frage muss heute gestellt werden, inwiefern Twain diese gesamte Problemfülle tatsächlich bewältigt hat bzw. inwiefern er zu sehr ins Burleske abglitt und eine ernsthafte Auflösung seiner Problemmodelle versäumte. Nun könnte man sagen: Mark Twain hat sich mit etlichen ernsthaften Angelegenheiten beschäftigt, hat einen humorigen Roman daraus gemacht und überlässt uns nun der Wahl, uns zu amüsieren oder wieder zu den ernsthaften Dingen zurückzukehren. Wenn schon dieses Buch wieder neu ediert wurde, muss man womöglich doch endlich ernsthaft damit umgehen. Und man muss den Roman tatsächlich noch einmal akribisch in und zwischen den Zeilen lesen. Ein gewisses Unbehagen bleibt zurück: Sollten wir es hier womöglich mit einer Satire auf die übertriebene politische Korrektheit im Umgang mit der Rassismusfrage zu tun haben - oder ist es eine sehr gewagte und daher humoristisch abgefederte Auseinandersetzung mit der Problematik der Identität?! Man möchte ja Mark Twain nicht Unrecht tun, aber die Brisanz des Stoffs ist offensichtlich unterschätzt worden, und der Roman muss heute endlich anders gelesen werden als eine harmlose Kriminalburleske.

(KS; 04/2010)


Mark Twain: "Knallkopf Wilson"
Übersetzt von Reinhild Böhnke.
Mit einem Nachwort von Manfred Pfister.
Manesse, 2010. 320 Seiten.
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Samuel Longhorne Clemens (1835-1910), besser bekannt unter seinem Pseudonym Mark Twain, wuchs in Missouri auf, verbrachte jedoch die längste Zeit seines Lebens an der Ostküste der USA und in Europa. Bereits mit seinen ersten Erzählungen, entstanden in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts, errang er großen literarischen Erfolg, der sich durch die Abenteuergeschichten um die beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu Weltruhm steigerte. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität zog sich Clemens - erschüttert durch viele private Schicksalsschläge - völlig zurück.

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Hundert Jahre mussten wir warten, denn Mark Twain hatte verfügt, dass seine Autobiografie, sein letztes, größtes Werk, erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden darf - und er kreierte damit einen Sensationserfolg.
"Mir schien, ich könnte so frank und frei und schamlos wie ein Liebesbrief sein, wenn ich wüsste, dass das, was ich schreibe, niemand zu Gesicht bekommt, bis ich tot und nichtsahnend und gleichgültig bin." (Mark Twain)
Leidenschaftlich und radikal lässt der größte us-amerikanische Schriftsteller in seiner Autobiografie vieles in neuem Licht erscheinen, oft klingt es, als kritisierte er die aktuellen Ereignisse, die uns heute mehr denn je bewegen. Aber auch lustig, liebevoll oder mit großen Gefühlen erzählt er von seiner Familie und von Schicksalsschlägen, von skurrilen Begegnungen mit den Großen und mit den verachtenswerten "Zwergen" seiner Zeit. (Aufbau)
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