Janet Malcolm: "Tschechow lesen"

Eine literarische Reise


"Das Leben wird uns nur einmal gegeben."

Diesen Satz, einmal wortwörtlich, dann wieder etwas abgewandelt, findet man in zahlreichen Erzählungen Anton Tschechows. Wie ein Leitmotiv taucht er immer wieder in den Werken des großen russischen Dichters auf. Und auch von Janet Malcolm wird diese Zeile mehrfach zitiert auf ihrer literarischen Reise in den Spuren Anton Tschechows. Wenn uns das Leben aber nur einmal gegeben wird, dann stellt sich unvermeidlich die Frage: Wozu das Ganze, wofür leben wir eigentlich? Und wohin gehen wir? Hat unser Handeln, Denken und Streben überhaupt einen Sinn? Anton Tschechows Fragen an das Leben finden in seinen literarischen Werken nur eine Antwort: den Tod. Einmal nur leben wir, dann ist Schluss. Beinahe alle Erzählungen Tschechows handeln vom Tod. Janet Malcolm formuliert es so: "Es ist schwer, sich ein Stück oder eine Erzählung von Tschechow vorzustellen, in denen der Tod nicht vorkommt. Der Tod ist der Angelpunkt, um den sich alles in Tschechows Werk dreht."

Handelt es sich demnach bei "Tschechow lesen" um ein düsteres Buch, schwärzer als die Druckerschwärze auf seinen Seiten? Nein, durchaus nicht. Man darf auch nicht vergessen, dass der Tod das große Thema für fast alle großen russischen Dichter war. Sie suchten die Antworten auf die Fragen, die ihnen das Leben stellte, nicht in philosophischen oder religiösen Denkgebäuden, sondern erkannten für sich, dass der Sinn des Lebens pures Empfinden ist, auch wenn dieses Empfinden leid- und schmerzvoll sein mag.

Janet Malcolm besuchte auf ihrer literarischen Reise durch Russland viele der Plätze, an denen Tschechow gelebt und gewirkt hat: Orte, in welchen er sich längere Zeit aufgehalten hat, seine Wohnungen, seine geliebten Gärten. Ihr Buch liest sich tatsächlich wie ein Reisebericht und weniger wie eine Anleitung, Tschechows Werke "richtig" zu lesen beziehungsweise zu verstehen. In einem legeren Plauderton berichtet die Autorin von ihrer Reise, biografische Skizzen aus Tschechows Leben und kurze Textpassagen aus seinen Werken bringt sie dabei immer wieder in Zusammenhang mit ihren Reiseeindrücken. Die Autorin verzichtet weitgehend auf Fachtermini und ins Detail gehende literaturwissenschaftliche Analysen, was ihr Buch auch für interessierte Laien sehr gut lesbar macht. Was ich allerdings vermisst habe, das war der Funke der Begeisterung, der ein wirklich starkes Interesse an Tschechow beim unvoreingenommenen Leser hätte entzünden können. Zumindest auf mich wollte dieser Funke nicht überspringen. Es steht natürlich außer Frage, dass die Lektüre Anton Tschechows auch heute noch viele Leser zu begeistern vermag. Wenn auch Janet Malcolm des Öfteren ihren Autor als Genie apostrophiert, den Stempel seines Genies konnte sie ihrem eigenen Buch leider nicht aufdrücken. Das soll wiederum nicht heißen, dass ihr Buch langweilig ist. Sie kredenzt ihren Lesern schon ein ausgewogenes und schmackhaftes Menü literarischer Unterhaltung, nur manchmal fehlt es dem Ganzen ein wenig an innerem Zusammenhang, zu bruchstückhaft werden doch bisweilen die einzelnen Themen aneinandergereiht.

Neben dem, was die Autorin über Tschechow und dessen Werke zu sagen hat, verdienen auch ihre Bemerkungen und Gedanken zu anderen Themen die Aufmerksamkeit des Lesers. Dann zum Beispiel, wenn sie vom Essen auf höchstem kulinarischen Niveau spricht. Ich musste da unweigerlich an die auf allen Fernsehkanälen grassierenden Kochsendungen denken. Janet Malcolm: "Ich bin immer berührt von einfachem, gut zubereitetem Essen. Ich fühle, wie mich etwas Freundliches und Großzügiges umgibt." Dem hält sie dann entgegen: "Bei eleganter und sehr sorgfältiger Küche in guten Restaurants spüre ich den Egoismus derer, die es zubereitet haben: Sie tun es für die Kunst, nicht für mich. Einige Male in meinem Leben habe ich auf höchstem gastronomischen Niveau gegessen, Speisen, die durchtränkt waren von der Unpersönlichkeit der Kunst."

Janet Malcolm bietet uns also mit ihrem Buch eine insgesamt recht interessante Mischung aus Biografie, Werkeinführung und Reisebericht.

(Werner Fletcher; 02/2010)


Janet Malcolm: "Tschechow lesen. Eine literarische Reise"
(Originaltitel "Reading Tschechow. A Critical Journey")
Deutsch von Anna und Henning Ritter.
Berlin Verlag, 2010. 204 Seiten.
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Janet Malcolm, geboren 1934 in Prag, wuchs in New York auf. Sie zählt zu den renommiertesten Essayistinnen der USA und schreibt für den "New Yorker". Veröffentlichungen zu Gertrude Stein, Sylvia Plath und der Psychoanalyse.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Zwei Leben: Gertrude und Alice"

"Zwei Leben" ist ein höchst anregender und aufschlussreicher, ebenso unterhaltender wie eleganter biografischer Essay über Gertrude Stein und Alice B. Toklas. Unbefangen und respektvoll nähert sich Janet Malcolm ihrem Gegenstand. Während sie den bisher Stein-Fremden Lust auf Werk und Leben der legendenumwobenen Autorin und ihrer Gefährtin macht, hat ihr Buch auch den Kennern Neues mitzuteilen. So erfährt man zum ersten Mal Genaueres über die Jahre des Zweiten Weltkriegs, die Stein und Toklas als Jüdinnen im nazibesetzten Frankreich verbrachten, nachdem sie sich bewusst  gegen eine Rückkehr in die Vereinigten Staaten von Amerika entschieden hatten. Stein sparte ihr Jüdischsein aus, sie verdrängte es, soweit sie nur konnte, und ließ sich von ihrem antisemitischen Freund Bernard Fay, der Zugang zu den höchsten Kreisen des Vichy-Regimes und zu Pétain selbst hatte, protegieren.
Oder: Malcolm berichtet von ihren Gesprächen mit Leon Katz, dem Einzigen, der Alice Toklas nach Steins Tod wirklich zum Sprechen brachte - auch über sorgsam Verschwiegenes  wie eine unglückliche frühe Liebe Steins, die Eingang nicht nur in ihre Notizbücher, sondern auch in Werke wie "The Making of Americans", "Drei Leben" und "Q.E.D." fand, was Alice Toklas noch viele Jahre später zu rasenden Eifersuchtsanfällen provozierte. (Suhrkamp)
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