Vladimir Sorokin: "23000"
Fulminanter Abschluss der
"Ljod"-Trilogie
Wer bereits "Ljod"
und "Bro"
gelesen hat, ahnt schon, was es mit "23000" auf sich hat.
Die Bruderschaft der Auserwählten entführt wieder bzw. weiterhin blonde,
blauäugige Kinder, Frauen und Männer, um ihre Herzen mit speziell
gefertigten Eishämmern zu wecken. Die Geweckten sind Teil der 23000
Glücklichen, die Anderen tragen bleibende Schäden davon oder sterben.
Das Menschsein ist in den Augen der Bruderschaft die Schande der Erde
und die Erde somit die Schande unseres Universums. Jedes Mittel zur
Findung der Brüder und Schwestern ist recht, Menschen bzw.
Fleischmaschinen, wie sie hier etwas reißerisch bezeichnet werden, sind
(falls nicht erleuchtet), hohle Nüsse und somit wertlos.
Während der erste Teil "Ljod" quasi der vorbereitende und groß angelegte
Prolog ist und "Bro" sich auf den Sektengründer Bro und die Entstehung
der Sekte im Rahmen der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts
konzentriert, ist "23000" das große Finale.
Die Bruderschaft bemüht sich, die letzten Herzen des Lichts zu finden,
während zwei Überlebende der brutalen Weckversuche sich das Ziel setzen,
das böse Treiben zu beenden.
Aus abwechselnden Erzählperspektiven lässt Vladimir Sorokin, Russlands
umstrittener Skandalautor der Postmoderne, der in Russland auch als
vermeintlicher Pornoautor und Schöpfer des Obszönen verrufen ist, den
Leser an dieser Stretta teilhaben und zieht ihn in dieses spannende
Endzeitszenario hinein.
Wieder einmal, wie schon so oft in unserer Geschichte, fühlt sich eine
"Rasse" einer anderen überlegen. Sorokins "Erweckte des Lichts" wollen
gar die verdorbene Erde, auf der Sex, Gewalt und Inkonsequenz
vermeintlich vorherrschen, als Schandfleck des Universums auslöschen.
Dazu müssen jedoch alle 23000 Herzen an einem bestimmten Tag miteinander
verbunden werden. Dass der Weg dahin nur über Gewalt und
Rücksichtslosigkeit führt, ist den Brüdern unwichtig.
Sorokins nur leicht getarnte Sozialkritik donnert hier mit geballter
Kraft auf diverse Weltverbesserer sowie selbst ernannte Wunderheiler und
Glaubensjünger nieder. Die kommerzialisierte Glückssuche
als Übel der Menschheit und der Wahn der Unbelehrbaren, die immer noch
an die Superiorität der jeweils eigenen Rasse glauben; Vladimir Sorokin
zerstört das jeweilige Phänomen, indem er die 23000 Geschwister des
Lichts an ihrem eigenen Licht im "Großen Kreis" verrecken lässt bzw. ad
absurdum führt.
"23000" ist ein Musterbeispiel für Vladimir Sorokins Prosa, die sich an
keiner Stelle stilistisch festnageln lässt und virtuos absurd auf die
jeweilige Thematik oder den gerade einsetzenden Protagonisten reagiert.
Obwohl definitiv nicht alles, was in "23000" von Vladimir Sorokin
aufgetischt wird, den Geschmack des Rezensenten trifft, weil es immer
wieder bewusst an der Grenze zwischen Kitsch und gutem Geschmack hin-
und herpendelt bzw. in schwächeren Händen ein peinliches Abgleiten in
niveaulose Esoterik-,
Pseudoerleuchtungs-
und Sciencefictionliteratur bedeutet hätte, so fesselt "23000"
von der ersten bis zur letzten Seite aufgrund der schöpferischen Kraft
des Autors. Wenn Vladimir Sorokin zwischen spannenden, reißerischen
Szenen und pathetischen, die Ideale und Gedanken der Sekte
verherrlichenden Hymnen hin- und herspringt, folgt man ihm gebannt, ohne
sich seinen Einwänden hingeben zu können oder zu wollen.
Empfehlenswert ist jedoch sicherlich, die drei Teile dieser spannenden
und großartig von Andreas Tretner übersetzten "Ljod-Trilogie" in der
richtigen Reihenfolge zu lesen.
(Roland Freisitzer; 06/2010)
Vladimir Sorokin: "23000"
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Berlin Verlag, 2010. 332 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors:
"Der Schneesturm"
Was beginnt wie eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert, entpuppt sich
als fantastische Irrfahrt durch das ländliche Russland einer nahen
Zukunft.
Garin, ein Landarzt, will so schnell wie möglich in den Ort Dolgoje, um
die Menschen dort gegen eine rätselhafte Krankheit zu impfen, die jeden
Infizierten zum Zombie macht. Doch es herrscht Schneesturm, Garins Pferde
sind erschöpft, also heuert er den einfältigen Brotkutscher Kosma an,
dessen Schneemobil von fünfzig winzigen Pferden gezogen wird. Und damit
beginnen die Merkwürdigkeiten erst: Auf seiner Reise durch das
unablässige Schneetreiben begegnet das ungleiche Paar Zwergen und
Riesen, es gibt ein Radio mit "lebendigen" Bildern, eine Paste, die Filz
"wachsen" lässt, eine Wunderdroge und vieles mehr - eine Märchenwelt mit
Ingredienzien einer Hochtechnologiegesellschaft. Eingebettet in den
erzählerischen Kosmos von Tolstoi,
Tschechow und Gogol,
versetzt "Der Schneesturm" ein grotesk-imaginäres Russland in den
Abgrund zwischen den Zeiten - ein zugleich heiteres wie verstörendes
Buch, das einmal mehr Sorokins herausragende Stellung unter den
zeitgenössischen russischen Schriftstellern untermauert. (Kiepenheuer
& Witsch)
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"Telluria"
Nach dem von der Kritik gefeierten und preisgekrönten Roman "Der
Schneesturm" setzt Vladimir Sorokin mit diesem Werk noch einen drauf:
ein fulminanter literarischer Rundumschlag, der den Zustand der Welt und
der Menschen darin um die Mitte des 21. Jahrhunderts zum Thema hat und
auf den die aktuellen Weltereignisse bereits zu verweisen scheinen.
Eurasien, Mitte des 21. Jahrhunderts: Die Welt ist nach verschiedenen
Religionskriegen, Revolutionen und Aufständen in weitgehend voneinander
isolierte Kleinstaaten zerfallen, in denen unterschiedlichste politische
Machtstrukturen herrschen. Es gibt u.A. das kommunistisch-orthodoxe
Moskowien, eine Sowjetische Sozialistische Stalinrepublik und ein
feudalistisches Neukölln mit Konrad von Kreuzberg an der Spitze, der die
Salafisten zurückgeschlagen hat. Köln ist eine Republik geworden, und
dann ist da noch die kleine, feine Bergrepublik Telluria, aus der das
kommt, was alle Menschen in diesem Meer der Barbarei haben wollen: das
ultimative Mittel, das beständiges Glück erzeugt. Das Leben nach der
Katastrophe ist durchaus nicht immer depressiv, man hat sich darin
eingerichtet. Sorokin entfacht in diesem Roman ein Feuerwerk der
Polyphonie, in 50 verschiedenen Texten fabuliert, imaginiert und
parodiert er, spielt mit verschiedenen Textformen und schafft so eine
großartige, wenn auch düstere Satire, die Ihresgleichen sucht. An der
Übertragung dieses brillanten Werks waren acht renommierte Übersetzer
beteiligt. (Kiepenheuer & Witsch)
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"Der Zuckerkreml"
Russland im Jahr 2028: ein neues Mittelalter, geprägt von
Informationstechnik und Massenarmut. Körperliche Züchtigung ist an der
Tagesordnung. In einem gewaltigen Stimmenchor führt Sorokin den Leser
durch die dunklen Seitengassen des Lebens in einem utopischen Russland,
das er dem heutigen wie einen Zerrspiegel vorhält.
In fünfzehn virtuosen Kurzerzählungen lernen wir Hofnarren, Henker,
Zwangsarbeiter, Bettler und Dissidenten kennen - und die anrührende
Marfuscha, die wie Tausende anderer Kinder am Weihnachtstag auf dem
Roten Platz ein Kremlmodell mit Mauern, Türmen und Toren ganz aus Zucker
geschenkt bekommt. Weil alle Brennstoffe ins Ausland verkauft werden,
heizen auch wohlsituierte Moskauer mit Holzscheiten, und die Aufzüge der
Wohnhäuser stehen am Wochenende still. Der Alltag ist geprägt von Angst
und Gewalt, versüßt wird er höchstens aus der Zuckerdose oder eben mit
den fabrikmäßig hergestellten Zuckerkremln, die einmal als Devotionalie,
dann wieder als Ersatzbefriedigung für das Volk dienen: Ein Trost, den
man lutschen kann. (Kiepenheuer & Witsch; Heyne)
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