Erasmus Schöfer: "Der gläserne Dichter"
Jedes
Jahr werden unzählige neue Bücher auf den Markt
geworfen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, daraus jene
wenigen Kostbarkeiten zu fischen, die gut in das eigene
Bücherregal passen. Große Verlage und
Verlagskonzerne haben die Mittel, viel Geld in Werbung und Vermarktung
zu stecken, sodass Verkaufsschlager konstruiert werden, die
ähnlichen Erfolg haben wie die berühmten warmen
Semmeln. Ein Verkaufsschlager lässt nicht auf die
Qualität der Geschichte schließen, sondern auf eine
Strategie des Verlages, die - warum auch immer - funktioniert hat.
Kein Autor ist davor gefeit, Vergleiche mit Kollegen anzustellen, und
doch ist es Unsinn. "Der gläserne Dichter" etwa fühlt
sich einerseits erhaben über die erfolgreichen Autoren,
andererseits ärgert er sich über deren unverdiente
Erfolge. Das Marktschreierische ist ihm zuwider. Manuskripte Jahr
für Jahr dem Hausverleger in den Rachen zu
schmeißen, ist ihm ein Frevel. Die Maxime eines Autors ist
es, an den Aufgaben zu wachsen, die er sich selbst gestellt hat. Seinen
Stand auf dem Marktplatz zu finden höchstens ein Nebeneffekt.
Die erfolgreichen Autoren kümmern sich nach Ansicht des
"gläsernen Dichters" nicht um qualitative
Höchstleistungen. Es geht einzig und allein darum, ein
Publikum anzusprechen, das bereit ist, die Ware zu kaufen. Berieselt
wollen die Leser werden, eingelullt von Erzählungen, die am
besten keinen Schnittpunkt mit den Schwierigkeiten des Lebens haben
mögen. Manche Autoren haben eine Nase für die
Hauptströmungen. Sie wittern den Braten und schreiben dann
drauf los.
"Der gläserne Dichter" glaubt, noch lange nicht am Ende seiner
Schaffenskraft angelangt zu sein. Er wird von seiner Frau Olga
ökonomisch unterstützt, ist ein Relikt aus dem
vergangenen Jahrhundert. Tantiemen bekommt er noch in Mark bezahlt. Er
ist ein Kavalier der alten Schule. Der Computer hat seinen Siegeszug
erst bedingt angetreten, von Mobiltelefonen ist keine Rede. Somit kann
die Geschichte des Autors als Erinnerung an eine Zeit gelesen werden,
die heutzutage überschlagen wird. Er macht sich Gedanken
über Werbung, die seinen Briefkasten quält. Keine
Rede von Datenmüll.
"Der gläserne Dichter" hat möglicherweise den
Anschluss an die Gegenwart verpasst,
dümpelt in der Vergangenheit herum, welche er nicht einmal
bewältigt hat. Zu Psychotherapien nämlich konnte er
sich nie aufraffen. Die Eigenart des Autors wird durch Psychotherapien
zertrümmert. Zumindest denkt er das. Er liest Rezensionen
über Bücher von Autorenkollegen und fragt sich, warum
dieses "Honig um das Maul Schmieren" der Endzweck einer literarischen
Betrachtung sein kann. Selbstkritik ist von überragender
Bedeutung. Er ist sich dessen bewusst, ein verkanntes Genie zu sein.
Gleichzeitig weiß er, dass er noch weit von jener
dichterischen Größe entfernt ist, die ihn
unsterblich machen mag. Das epochale Werk fehlt noch, er schreibt
daran. Ein Drama soll es sein, das die Menschen zu
Jubelstürmen veranlasst. Noch aber fehlt es am Feinschliff. Er
hat mehr zu bieten als viele erfolgreichere Autorenkollegen. Es geziemt
sich, das Schreiben nicht als Leistung zu sehen. Zehn Manuskripte in
zehn Jahren zu schreiben ist leicht, wenn die Forderung an die
literarische Qualität gering ist. Seine dichterischen
Ergüsse werden seltener an das Licht der
Öffentlichkeit gespült. Es handelt sich um Kleinode,
in jahrelanger Arbeit entstandene Lichtungen, die durchaus als
Meisterwerke bezeichnet werden können. Freilich in aller
Bescheidenheit formuliert.
Dennoch fragt sich "der gläserne Dichter", ob es
zielführend ist, alles dem Schreiben unterzuordnen. Er macht
gern Urlaub in den Bergen, erfreut sich an Blümchen,
hört den Vögelchen beim Zwitschern zu. Immer aber ist
er Dichter, in jeder Situation. Er beobachtet haarscharf, kein Detail
bleibt ihm verborgen. Ist er seine eigene Figur? Zählt er
selbst nicht, bis er sich zwischen Buchdeckel drängt?
Die Analyse von Erasmus Schöfer zeigt den nicht
erfolgsverwöhnten Autor in aller Deutlichkeit. Das Buch ist
allen Autoren und Nicht-Autoren zu empfehlen. Den Autoren, weil sie
sich zumindest in einzelnen Abschnitten selbst erkennen werden. Wo sie
sich nicht erkennen, können sie darüber nachdenken,
warum es nicht der Fall ist und daraus Rückschlüsse
ziehen. Den Nicht-Autoren, weil sie über die Innenwelt eines
Autors die Innenwelt aller vorstellbaren Autoren kennen lernen
könnten. Ob Ähnlichkeiten zu bekannten oder weniger
bekannten Autoren zufällig sind oder erwünscht, mag
jeder Leser für sich selbst beurteilen.
Und ob auch weibliche Autoren und weibliche Nicht-Autoren den Sprung
ins kalte Wasser der dichterischen Freiheiten machen können?
Natürlich, ohne Zweifel. "Der gläserne Dichter" kann
auch als "gläserne Dichterin" gelesen werden. Aus Olga wird
Holger, und damit hat es sich. Machen Sie die Probe aufs Exempel.
(Jürgen Heimlich; 03/2010)
Erasmus
Schöfer: "Der gläserne Dichter"
Dittrich Verlag, 2010. 144 Seiten.
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Erasmus Schöfer, 1931 bei Berlin geboren und dort aufgewachsen, hat später in Köln, Freiburg, München, Neuss, in Paris und auf den Inseln Patmos und Ithaka als freier Schriftsteller gelebt. Er arbeitete mehrere Jahre in Berliner und Kölner Fabriken, promovierte in Bonn in Sprachwissenschaft und Philosophie, war einer der Gründer und Vorsitzender des "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt", Mitinitiator und Autor des "Industrietheater Der Wahre Anton" und Mitarbeiter im Bundesvorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes (VS). Er ist seit 1980 Mitglied des Deutschen "P.E.N. "-Zentrums. Seine zahlreichen literarischen und publizistischen Arbeiten sind in Theatern, Rundfunkanstalten, Verlagen, Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht worden.