Warlam Schalamow: "Künstler der Schaufel"
Erzählungen aus Kolyma 3
Von der Grausamkeit der Menschen
Der 1907 in Wologda als Sohn eines Geistlichen geborene Warlam
Schalamow hatte
in Moskau "sowjetisches Recht" studiert, bevor er 1929 wegen
konterrevolutionärer Agitation zu Lagerhaft im Ural verurteilt
wurde, weil er
1927 auf einer Demonstration ein Schild mit der Aufschrift
"Nieder mit Stalin" getragen hatte. Zwei Jahre später kehrte er
nach Moskau zurück.
1937 wurde er erneut verhaftet und in die Kolyma Region im Nordosten
Sibierens
deportiert. Nach neunzehn Jahren in mehreren Lagern in Sibirien und
nach seiner
Freilassung auch als Arzthelfer in Kjubuma und als
Straßenbauarbeiter durfte er
drei Jahre nach Stalins Tod nach Moskau zurückkehren, wo er
1982 vereinsamt in
einer Nervenheilanstalt starb.
"Es ist unmöglich, mit einem Mal fünf- oder
sechshundert Gramm Brot
herunterzuschlucken. Leider unterscheidet sich der menschliche
Verdauungsapparat
in seiner Bauweise von dem Verdauungsapparat einer Boa oder einer
Möwe. Die
Speiseröhre eines Menschen ist zu eng, ein Stück Brot
von einem halben Kilo
Gewicht lässt sich nicht auf einmal hineinschieben, erst recht
nicht mit Rinde.
Man muss das Brot zerbrechen und kauen - dafür vergeht
wertvolle Zeit. So einem
Arbeiter reißen die Ganoven die Brotreste aus der Hand, sie
biegen ihm die
Finger auf, schlagen ihn ..."
Noch in Sibirien, aber schon freigelassen, begann er damit, seine
"Erzählungen
aus Kolyma" zu schreiben. Zum Großteil kurze
Erzählungen, die sich mit
dem Alltag im Arbeitslager und mit der Zeit beschäftigen.
Diese Erzählungen
wurden von Warlam Schalamow in sechs Bände unterteilt,
für die russische
Gesamtausgabe 1998 in vier Bände zusammengefasst und so
für die großartige
Matthes & Seitz-Ausgabe übernommen.
In "Künstler der Schaufel" sind also die Bände 3
("Künstler
der Schaufel") und 4 ("Skizzen der Verbrecherwelt") der
ursprünglichen
Ordnung von Warlam Schalamow zusammengefasst.
Schalamows Prosa ist schnörkellos, klar, prägnant und
immer im Dienst der
Aussage. Auf den ersten Blick unspektakulär, entfaltet sich
die Wirkung erst
langsam. Eiskalt und schmucklos wie die Temperaturen in Kolyma treffen
die
meisten Erzählungen, fassungslos liest man die letzten
Sätze der jeweiligen
Erzählung und merkt, was hier alles zwischen den Zeilen steht.
"Die Ziegen, ihre Pflege, das Füttern, das
Saubermachen und Melde, all
das machte der Blinde selbst, und diese verzweifelte und
überflüssige Arbeit
war ein Akt der Selbstbestätigung im Leben - der Blinde war es
gewohnt, Ernährer
einer großen Familie zu sein, war es gewohnt,
beschäftigt zu sein und seinen
Platz im Leben zu haben und von niemandem abhängig zu sein,
weder von der
Gesellschaft noch von den eigenen Kindern. Er ließ seine Frau
alle Ausgaben aufschreiben, die der sommerliche Verkauf der Ziegenmilch brachte ...
Schon im ersten Sommer stellte sich heraus, dass das Futter erheblich teurer war
als die herausgeholte Milch, und auch die Steuern auf das Kleinvieh
waren gar nicht so klein, aber die Frau des Geistlichen verbarg die Wahrheit vor
ihrem Mann und sagte ihm, die Ziegen brächten Gewinn. Und der blinde
Geistliche dankte Gott, dass er die Kraft fand, seine Frau wenigstens mit
irgendetwas zu unterstützen."
Eine der großartigsten Erzählungen aus
"Künstler der Schaufel" ist
"Das Kreuz", in der ein erblindeter Geistlicher täglich seine
Ziegen melkt, während seine Frau ohne sein Wissen Geld verdient, da
die Ziegen
eigentlich ein Verlustgeschäft sind, weil ihr Futter mehr
kostet, als die Milch
einbringt, die sie geben. Wunderbar zärtlich führt
Warlam Schalamow diese
Geschichte bis zum unausweichlichen Höhepunkt.
Warlam Schalamow moralisiert nie und verurteilt seine "Protagonisten"
nicht. Er erzählt, er schreibt sich die Erinnerungen in Form
von Prosa aus dem
Gedächtnis. Das Resultat ist ein Riesenzyklus von
Erzählungen, die sich alle
in irgendeiner Form mit den Fragen beschäftigen, was ein
Mensch einem anderen
Menschen antun kann und wie man als geächteter
Überlebender solcher
Grausamkeit weiterleben kann. Ein großes, ein wichtiges und
menschliches Buch,
ganz große Literatur.
Ausgezeichnet übersetzt und herausgegeben, mit Anmerkungen und
Glossar versehen und sehr interessantem Nachwort von Michail Ryklin, ist dieser Band
(wie schon die Bände 1 und 2) eine Glanztat des Verlages Mathes &
Seitz im Dienste Warlam Schalamows.
(Roland Freisitzer; 08/2010)
Warlam Schalamow: "Künstler der Schaufel. Erzählungen aus
Kolyma 3"
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein.
Mit einem Nachwort von Michail Ryklin.
Matthes & Seitz, 2010. 605 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Auferweckung der Lärche.
Erzählungen aus Kolyma 4"
Mit "Die Auferweckung der Lärche" liegen nun die sechs Zyklen der "Erzählungen aus Kolyma" erstmals vollständig auf Deutsch vor. Die insgesamt ca. 1600 Seiten
umfassenden Erzählungen zählen zu den eindrucksvollsten literarischen Texten der
russischen Literatur des 20. Jahrhunderts und eröffnen einen immer wieder
verstörenden Blick in dessen Abgründe.
Der abschließende Band der "Erzählungen aus Kolyma" enthält - wie schon der dritte
Band "Künstler der Schaufel" - zwei Erzählzyklen. (Matthes & Seitz)
Buch
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Buchtipps:
Józef Tischner: "Der Streit um die Existenz des Menschen"
Der Priester und Philosoph Józef Tischner, Vordenker der
Gewerkschaft
Solidarnosc, gilt als einer der wichtigsten polnischen Intellektuellen
des 20.
Jahrhunderts. In den Jahren vor seinem Tod wandte er sich noch einmal
seinen
theologischen und philosophischen Lebensthemen zu. Im Dialog mit Kant
und Descartes, Kierkegaard, Levinas und Sartre,
aber auch in der Auseinandersetzung mit den Werken Warlam Schalamows
und Witold Gombrowiczs stellt er radikale Fragen: Hat der Mensch im Zeitalter des
totalitären Terrors, in der Epoche von Auschwitz und Kolyma, nicht seine
Menschlichkeit verloren? Müssen die Begriffe des Guten, die Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit und Verantwortung angesichts der immensen Schuld
nicht neu gedacht werden? Tischners These lautet: Selbst wenn der Mensch tot ist, so
bedeutet dies vor allem, dass er existiert hat. Wenn er aber existiert hat, so kann
er wiedergeboren werden. Die Interpretation existenzieller Erfahrungen und
Kategorien wie Hoffnung und Verzweiflung, Leib und Seele, Gnade und
Gnadenlosigkeit weisen den Weg zu einem Neuentwurf dessen, was der
Mensch sein könnte.
(Insel Verlag)
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Tessa
Szyszkowitz: "Die neuen Russen. Die Generation nach Putin"
Die "ersten" Russen, die nach dem Ende des Sowjetkommunismus in
den Westen kamen, erwarben sich schnell einen schlechten Ruf. Die
wüste Melange
aus postsowjetischem Geruch und schlechtem neokapitalistischen
Geschmack ließ
das alte Europa erschaudern. Doch jetzt übernimmt eine neue
Generation von
jungen Russen die Initiative. Die "Nowije Russkije" 2010 haben keine
oder kaum mehr sowjetische Luft geschnuppert. Die dröge
Ideologie der
Jugendorganisation Komsomolz blieb ihnen erspart. Die Angst der
frühen und die
Trägheit der späten Sowjetjahre ist ihnen fremd. Die
20- bis 35-jährigen
Russen sind unter Boris Jelzin und Wladimir Putin aufgewachsen. Bei
allen
Problemen des gegenwärtigen Russland haben diese "neuen
Russen" mehr
innere Freiheit und äußere Stabilität
erlebt als ihre Altvorderen. Die "neuen
Russen" entfalten im Jahr 2010 überall ihre innovative Kraft:
im Theater
wie in Banken, in Moskau oder in Sibirien. Sie nützen
klassische russische
Tugenden - strikte Disziplin, hohen Anspruch an kulturelle Erziehung,
große
Sensibilität gegenüber den Tiefen der Seele - und
kombinieren sie mit der
Forderung nach individueller Freiheit und Wohlstand. Russland 2010 ist
anders.
Tessa Szyszkowitz porträtiert die Kulturmanagerin Alisa
Prudnikowa, die
Dramatikerin Jaroslawa Pulinowitsch, den Künstler Chaim Sokol,
die Ballerina
Daria Chochlowa und sechs weitere "neue Russen" - sie alle
prägen das
Russland von morgen. (Picus Verlag)
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