Thomas Sautner: "Fremdes Land"


Überwachte Käfighaltung

Seit zehn Jahren läuft in deutschen Landen die Fernsehsendung "Big Brother".  Bei diesem auch international erfolgreichen, gleichfalls jedoch umstrittenen Format wird das Leben der Teilnehmenden rund um die Uhr von Fernsehkameras aufgezeichnet und regelmäßig als Zusammenschnitt ausgestrahlt.

In der Realität sind wir von derartigen Szenarien gar nicht mehr so weit entfernt. Großbritannien zum Beispiel gilt in der sogenannten westlichen Welt als der rabiateste Überwachungsstaat und Weltmeister bei der Datensammlung; allen voran die Hauptstadt London. Mehr als 4,5 Millionen Kameras filmen das Leben der Briten und sollen Kriminelle abschrecken. Erhebungen ergaben, dass die Leute aus Furcht vor Verfolgung bereits Angst haben, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.

Der Österreicher Thomas Sautner hat sich dieses Themas in seinem Roman "Fremdes Land" angenommen. Goethes Worte "Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein", stehen deutungsvoll dem Werk voran. Sautner setzt den Leser in ein fiktionales Szenario, das bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so abwegig scheint.

Zwar beginnt die reguläre Rente erst ab 80, doch Lebensmittel haben einen nie erreichten Gesundheits- und Sicherheitsstatus erreicht. Zucker- und fetthaltige Speisen sowie Tabak und Alkohol sind verboten, Idealgewicht, Leistungsfähigkeit und moralisches Handeln staatlich oktroyiert. Verstöße ziehen Verwarnungen, Abmahnungen und letztlich strengste Sanktionen nach sich. Auch auf der Straße wird Sicherheit groß geschrieben. Das standardmäßig integrierte Sicherheitskontrollsystem im Auto überwacht jegliche Fahrtätigkeit des Wagenlenkers und greift bei Gefahr sofort ein, direkte elektronische "Vergehens"-Meldung an die zuständige Versicherungsgesellschaft inklusive. Bargeld wurde abgeschafft. Die persönliche "P-Card" dient als Universaldokument. Sie ist Pass und Ausweis, Bargeld- und Kreditkarte, Krankenkassen-, Telefon-, Park- oder aber Fahrkarte.

Der Geist der Menschen ist auf dem Tiefpunkt angekommen. Das nutzen die Medien, um in sie einzusickern, jeden Tag ein Stückchen tiefer. Sie indoktrinieren dem unmündigen Bürger ein neues Unterbewusstsein und verhelfen ihm zu einer neuen Art von Leben "mit kunterbunt glitzernder Oberfläche und einem Inneren so leer, dass es nicht lohnte zu verweilen." Eventuell aufkommende depressive Befindlichkeiten können mit so genannten "Feelgood-Pillen", erhältlich für vierzehn unterschiedliche Stimmungsdissonanzen, "aufgepeppt" werden.

"Aktion Caring Mom - Schutz, Wärme und Geborgenheit in einer gefährlichen, gefühlskalten Zeit", lautet die Propaganda der neuen Regierung, der Jack Blind, Hauptfigur in Thomas Sautners gruseligem Zukunftsszenario und Stabschef des Präsidenten Mike Forell, angehört. Jack hat den unbedingten Willen zur Macht. Sein Traum, "zu jener Handvoll Menschen zu gehören, die das Land regieren", ist in Erfüllung gegangen. Seine eigenen Ideale und sein Selbst verleugnet er erfolgreich. Doch statt die Hebel der Macht uneingeschränkt bedienen zu können, ist er in Wahrheit nur deren Marionette. Die Politik ist längst abhängig von einem allmächtigen Wirtschaftskartell, das den Weltmarkt beherrscht und Presse und Regierung instrumentalisiert. Jack bekommt dies letztendlich am eigenen Leib auf dramatische Art und Weise zu spüren.

Thomas Sautner greift ein Thema auf, das ein literarischer Visionär bereits vor 61 Jahren voraussah. George Orwell zeichnete in "1984" das Bild eines Staates, der seine Bürger bis in den Privatbereich hinein überwacht. Leider reicht Sautners Roman nicht an den scharfzüngigen Briten heran. "Wenn ich ein Buch lese, wünsche ich mir, dass es sprachlich schön ist, mich inhaltlich etwas lehrt und im besten Fall auch reifer macht beim Lesen", betonte der Autor in einem Interview. Aber genau diese Prämissen lässt er vermissen. Zu einem eher ungelenken und farblosen Schreibstil gesellen sich bei ihm klischeebeladene Handlungsstrukturen sowie verwaschene Charaktere. Sautner skizziert zu stark in Schwarz und Weiß. Er lässt dem Leser keine Möglichkeit zur eigenständigen Gedankenentwicklung und der rationellen Auseinandersetzung mit einem ernsthaften Thema. In "Fremdes Land" wird Diffiziles als leichte Kost, zu stark überzogen und mitunter gar pathetisch serviert. Ein subtilerer Einsatz von Stilmitteln und fein abgestuften Farbnuancierungen hätte dem Werk auf jeden Fall besser zu Gesicht gestanden.

(Heike Geilen; 10/2010)


Thomas Sautner: "Fremdes Land"
Aufbau Verlag, 2010. 250 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen