Hans Sahl: "Die Wenigen und die Vielen"
Ein
beeindruckendes Zeugnis
deutscher Exil-Literatur
Hans Sahl (1902-1993) schreibt hier über eine Zeit, in der es
zweifellos besser
war, zu den Wenigen zu gehören als zu den Vielen. Aber es war
auch gefährlicher,
wie der Hauptprotagonist dieses Romans, Georg Kobbe, erfahren muss.
Kobbe ist
ein dem nationalsozialistischen Regime missliebiger Schriftsteller -
zum Einen,
weil er Jude ist, zum Anderen, weil er als Schriftsteller die falschen
Bücher
schreibt - der sich gezwungen sieht, seine Heimat zu fliehen, wenn er
denn dem
braunen Terror entkommen und überleben will. Dem 1993 in
Tübingen verstorbenen
Autor und Kritiker Hans Sahl widerfuhr ein gleiches Schicksal, sein
Roman, der
übrigens sein einziger blieb, trägt also starke
autobiografische Züge. Er erzählt
von der abenteuerlichen Flucht Georg Kobbes, die ihn von Berlin aus
über Prag
und Paris nach New York verschlägt, wo er aber letztendlich
auch erkennen muss,
dass er in einem lebenslangen Exil leben würde, in einer Art
von geistigem Exil
nämlich, das an kein bestimmtes Land, an keine bestimmte
Situation mehr
gebunden ist.
Wenngleich wenig handlungsorientiert, nimmt einen das Buch von Anfang
an
gefangen. Eine Gewalt, die den Leser unmittelbar an den Wurzeln seiner
eigenen
Existenz packt, geht von ihm aus. Dieses Buch setzt
tatsächlich Maßstäbe in
der deutschen
Exil-Literatur zur Zeit der nationalsozialistischen
Diktatur. Kaum
wurde je tieflotender über das Thema Exil geschrieben, kaum je
vieldeutiger,
facettenreicher, überzeugender. Und das Lesenswerte an diesem
Roman beschränkt
sich keineswegs auf das allgemeine Interesse am Thema Exil, die
Tragweite der
Gedanken, die uns Hans Sahl hier präsentiert, reicht weit
über die vom Thema
her gesteckten Grenzen hinaus. Eine reiche Ernte an Einsichten kann der
Leser
hier einfahren, zum Beispiel, dass die Wahrheit nur deshalb immer in
die Mitte
gelegt wird, weil sie dort keinen Schaden anrichten kann. Dass man die
Freiheit
nur liebt, wenn man sie verloren hat, dass alle Menschen, die es
ehrlich meinen,
ratlos sind. Oder dass das Dasein einen Dickicht-Charakter besitzt: "Die
Undurchdringlichkeit. Das Wuchern und Schwären der Probleme,
ihr Verflochten-
und Ineinanderverschlungensein." Es gibt also keine einfachen
Erklärungen.
Und schon gar nicht, was den Erfolg Adolf
Hitlers angeht. Denn da
spürte Hans
Sahl ganz deutlich, dass da etwas vor sich gegangen war, was von
niemandem erklärt
werden kann. "Ich war dabei, als es geschah, und es war ganz
anders,
viel furchtbarer und unerklärlicher, als es in den Berichten
zu lesen war.
Etwas ist geschehen, was nicht geschehen durfte, und auch wir sind
nicht ohne
Schuld. Nein, sogar wir nicht." Ein bemerkenswertes
Eingeständnis.
Spricht er hier lediglich aus der Sicht des Intellektuellen oder auch
ein wenig
aus der Sicht eines Juden? Jedenfalls schlüpft Hans Sahl weder
in die Rolle des
Anklägers noch badet er seine Seele in Selbstmitleid. Ebenso
wenig versucht er,
seinen Lesern eine bestimmte Moral aufzudrängen. Und immer hat
man das Gefühl,
dass aus den Zeilen dieses Buches eine Stimme spricht, die sich in all
der
leidvollen Verzweiflung eine versöhnliche Milde bewahren
konnte.
Die Prosa Hans Sahls erscheint mir ein wenig zurückgenommen,
reduziert, ohne
aber dabei in eine unterkühlte Distanz abzugleiten. Und trotz
seiner ungeheuren
psychologischen Dichte liegt in "Die Wenigen und die Vielen" eine
bemerkenswerte Klarheit vor. Überbordende Metaphorik ist dem
Autor Hans Sahl
fremd, wo er Metaphern gebraucht, sind diese stimmig und
schlüssig wie
beispielsweise die "Flocke im Schneetreiben der
Assoziationen."
Die Erzählperspektive wechselt des Öfteren. Einmal
erteilt der Autor seinem
Helden Georg Kobbe als Ich-Erzähler das Wort, dann wieder
beschreibt er ihn aus
der Sicht eines außenstehenden Beobachters.
Außerordentlich gut gelungen erscheint mir auch die
Charakterisierung Adolf
Hitlers, über den hier unter Anderem zu lesen ist: "Selbst
der Duce,
diese Karikatur eines römischen Condottiere, musste sich, um
der Piazza zu
gefallen, den pompösen Stil historischer
Heldendenkmäler ausborgen. Aber im
Gesicht des Führers war der geschichtslose Massenmensch jener
Jahre, das
anonyme Wesen, das überall war und nirgends, offiziell
geworden. In diesem
Gesicht war nichts Menschliches mehr."
Das Christentum wiederum sieht Sahl "als die tiefste Einsicht
in das
Fragwürdige der menschlichen Natur", und daraus
leitet sich für ihn
die entscheidende aber paradoxe Aussage ab, dass man für den
Menschen
sein
muss, auch wenn alles gegen ihn spricht. Auch hier kommt wieder die
versöhnliche
Grundhaltung des Autors zum Ausdruck. Beeindruckend ist auch Sahls
Schilderung
der Qualen des Hungers,
die er gewiss am eigenen Leibe hat erfahren
müssen.
Fazit:
Hans Sahls Roman "Die Wenigen und die Vielen", der nicht nur sein
einziger bleiben sollte, sondern darüber hinaus auch
einzigartig ist, gehört
sicher zu den wichtigsten und überzeugendsten Zeugnissen
deutscher
Exil-Literatur. Ungemein lesenswert!
(Werner Fletcher; 06/2010)
Hans
Sahl: "Die Wenigen und die Vielen"
Luchterhand, 2010. 368 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen