Aris Fioretos: "Flucht und Verwandlung"

Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm


Die erste umfassende Bildbiografie zu Leben und Werk der Nelly Sachs: Anhand zahlreicher bisher unbekannter Fotos, Texte und Zeugnisse werden die Eigenart ihres Werks und der historische Kontext, in dem es entstanden ist, erstmals sichtbar.

Im Jahr 1940, die allerletzte Möglichkeit ergreifend, flieht die damals neunundvierzigjährige jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs vor der Vernichtungsmaschine der Nazis nach Schweden, wo sie bis zu ihrem Lebensende bleibt. Der schwedische Wissenschafter und Autor Aris Fioretos, der Nelly Sachs’ Werke übersetzt hat und Herausgeber einer kommentierten Werkausgabe von Nelly Sachs in Schweden ist, hat mit dieser wunderbaren Bildbiografie ein Werk vorgelegt, das auf beste Weise eine Wanderausstellung mit gleichnamigem Titel begleitet.

Aufgewachsen ist Nelly Sachs in einer liberal jüdischen Familie. Als Kind wollte sie Tänzerin werden, doch dafür scheint sie zu schüchtern. Sie ist ein verträumtes Kind ohne Geschwister, das nach einer unglücklichen Liebe an etwas erkrankt, was man heute Magersucht nennt. Zwei Jahre wird sie im Sanatorium der Charite behandelt und findet Trost im Schreiben. Schon hier zeigt sich in ihren Texten, wie der Schmerz über den Verlust sie prägt. Nach ihrer Flucht vor den Nazis wird das überdeutlich. Ihr Werk ist ein einziges Zeugnis des Schmerzes des Verlustes und die Schrecken des Holocaust, der sie nie loslässt.

Sie findet Obdach in der Familie von Margarethe Holmqvist, die ihr Freundin und Übersetzerin zugleich wird und über ihren ersten Eindruck von Nelly sagt:
"Sie war ja ziemlich klein und hatte große schwarze Augen und sehr zierlich und die Augen sind dunkel und ein bisschen traurig, und das war das erste Bild von ihr. Selbst hat sie nachher gesagt, das war eine Sternstunde und das war es für unsere ganze Familie."

Um Geld zu verdienen, muss Nelly Sachs viel schreiben und übersetzen. Und so entstehen statt romantischer Gedichte viele Texte und Gedichte über den Holocaust, der sie regelrecht verfolgt. Während sie auch außerhalb Schwedens immer erfolgreicher wird, nehmen ihre Wahnvorstellungen zu, in denen sie sich als Opfer einer nationalsozialistischen Verschwörung wähnt. Nur im Schreiben findet sie Ruhe und Rettung. Sie selbst formuliert das anno 1966, im Jahr der Verleihung des Literaturnobelpreises, folgendermaßen:
"Ganz nah am Tod ist das Wort gekommen, wenn man mich fragen könnte, wer mich gelehrt hatte zu diesen Worten zu kommen, dann kann ich immer wieder sagen der Tod. Ich musste es, ich habe mich gerettet dadurch."

(Winfried Stanzick; 05/2010)


Aris Fioretos: "Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm"
Aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Suhrkamp, 2010. 317 Seiten.
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Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechich-österreichischer Herkunft. Anno 2010 hat er die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiografie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen - er übertrug u. A. Hölderlin, Nabokov und Paul Auster ins Schwedische - wie für seine eigene Literatur hat er zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Aris Fioretos lebt in Berlin.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater"

Die Geschichte eines griechischen Vaters, rückwärts erzählt - vom Tod auf der Pflegestation bis zurück in die Zeit vor dem ersten Kind, als der Vater noch kein Vater war. Als Neunzehnjähriger verlässt dieser Anfang der 1950er-Jahre seine Heimat und kann wegen der Militärdiktatur lange nicht zurückkehren. In Wien studiert er Medizin, in Schweden heiratet er eine Kunststudentin aus Österreich. Schließlich geht er nach Griechenland zurück, um eine neue medizinische Fakultät und ein Zuhause für seine Familie aufzubauen. Mit Liebe und literarischem Witz beleuchtet Aris Fioretos die Beziehung zwischen einem Vater und einem Sohn. Eine Hommage an einen geliebten Menschen, dessen Leben von einem Geheimnis geprägt war. (Hanser)
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"Der letzte Grieche"
Jannis Georgiadis, Sohn eines Bauern aus Griechenland, verlässt seine Heimat Mitte der 1960er-Jahre, um seiner Jugendliebe nach Schweden zu folgen. Vorübergehend findet er dort das Paradies: Er träumt von einem Studium der Hydrologie und verliebt sich in das schwedische Kindermädchen. Doch als sich viel zu früh ein Kind einstellt, scheitert nicht nur eine der Zukunftsvisionen des griechischen Gastarbeiters.
Aris Fioretos' Geschichte über Familie, Migration, Erinnerungen und Lebenslügen ist ein virtuoser Roman über das 20. Jahrhundert in Europa. (Hanser)
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"Das Maß eines Fußes"
Aris Fioretos, Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter, geboren und aufgewachsen in Schweden, lebt in Deutschland, öffnet in seinem Buch eine wahre Wunderkammer voller kluger Geschichten und Essays, die den Geist auf lustvolle Weise beweglich halten: Neben anatomischen Feldstudien und einer Exkursion ins Innere des menschlichen Schädels stehen Kindheitserinnerungen, "Bulletins aus der Geschichte des Herzens" und eine "Liebeserklärung an Fräulein Uhr". So entsteht Literatur, die das scheinbar Disparate und Gegensätzliche zusammenbringt. Auf der Grenze zwischen Fiktion und Essay balancierend, sind Fioretos Texte ein Lesevergnügen auf hohem Niveau. (Hanser)
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