"Henri Rousseau"


Den Urwald im Kopf

"Um einen Urwald zu malen, musst du nicht im Urwald gewesen sein. Das ist das Wunderbare an der Kunst: Im Kopf musst du ihn haben, im Kopf" - so oder sinngemäß hat sich Rousseau in einem Gespräch geäußert. Und um diese Idee der Kunst geht es eigentlich immer wieder, so auch hier. Der vorliegende Katalog zur Ausstellung in Basel anlässlich des hundertsten Todestages des Künstlers präsentiert 82 farbige, zum Teil großformatige Abbildungen der Hauptwerke. Der "Zöllner" Henri Rousseau (21.5.1844 - 2.9.1910) gehört zu den beliebtesten Künstlern der frühen Moderne. Im Zentrum steht hier seine Faszination für den Gegensatz zwischen der gezähmten westlichen Welt und einer ungezähmten, eigentlich imaginären Natur. Die Kunsthalle Basel hatte übrigens bereits 1933 die erste große Rousseau-Retrospektive organisiert. Nicht nur laut Horst Richter ("Geschichte der Malerei im 20. Jahrhundert") gilt Rousseau als der "Vater der naiven europäischen Malerei". Im Allgemeinen ordnet man ihn relativ ratlos einem sogenannten "Postimpressionismus" zu. Einige Essays im vorliegenden Band versuchen eine substantiellere Charakterisierung der Besonderheit Rousseaus herauszuarbeiten.

Im Jahr 1891 stellt er sein erstes Dschungelbild Surpris! Im "Salon des Indépendants" aus. Hier wird im Jahr 1894 mit dem Bild La Guerre ein weiteres seiner Hauptwerke ausgestellt. Leider fehlt in der hier behandelten Präsentation diese befremdliche Darstellung eines im Sinne des Wortes schönen Schreckens. Übrigens erscheint in der Ausgabe des "Mercure de France" vom März 1895 mit einer Besprechung über La Guerre der einzig positive Artikel über den Künstler zu seinen Lebzeiten. Ebenso bedauerlich ist hier das Fehlen des Bildes La Bohémienne Endormie, welches im Jahre 1897 im "Salon" gezeigt wurde. Haben wir es dabei doch mit einer meisterhaften Reduktion des klassischen Motivs "Die Schöne und das Biest" zu tun - wobei die Schöne nicht sehr schön und das Biest kein solches ist. Im Vergleich zu anderen von Rousseau gemalten gefräßigen Raubkatzen wirkt der Löwe hier eher schüchtern und schlimmstenfalls ein wenig neugierig.

Bereits 1893 gibt Rousseau die Stelle bei der Städtischen Zollbehörde von Paris auf und geht vorzeitig in den Ruhestand, was allerdings zur Folge hat, dass sich in den nächsten Jahren bei ihm die Schulden anhäufen. Erst im Jahr 1905 wird ihm wirkliche öffentliche Anerkennung zuteil - und zwar für sein monumentales Dschungelbild Le lion, ayant faim, se jette sur l'antilope. Dieses Gemälde gelangt für läppische 200 Francs immerhin als erstes Bild Rousseaus in den Kunsthandel. Es ist offensichtlich so, dass es an der öffentlichen Anerkennung mangelte, Kritiker und Künstlerfreunde wie Robert Delaunay, Wassily Kandinsky oder Franz Marc sich aber durchaus für Rousseau einsetzten. Picasso etwa veranstaltete im November 1908 in seinem Atelier auf dem Montmartre das legendäre "Banquet Rousseau", zu dem u.a. auch Georges Braque, Guillaume Apollinaire oder Gertrude Stein erschienen.

Das Wesen der Rousseau'schen Kunst dreht sich wohl um das Zusammenspiel des Exotischen mit dem Banalen. Apollinaire meinte einmal, dass Rousseau "zweifellos der sonderbarste, der kühnste und der charmanteste Maler des Exotischen" gewesen sei. Das Problem ist ja, für wen etwas "exotisch" oder "banal" ist bzw. ob die zugrunde liegende Kategorie der Vertrautheit diese Ansichtssache sowohl für den Alltag als auch für die Kunst fassbar machen könnte. Für Kunsthistoriker mag es überdies noch interessant erscheinen, über die gedanklichen Verbindungslinien zwischen Rousseau, Gauguin und Cézanne zu reflektieren, welchen Stellenwert bei diesen die Ablehnung der europäischen Zivilisation einnimmt. Dabei geht es ja auch um die Reproduktion kolonialer Stereotypen bzw. um die Authentizität oder gerade die Nichtauthentizität des Exotischen. Aus einem Essay des damaligen zeitgenössischen Schriftstellers und Schiffsarztes Victor Segalen entnehmen wir über das Wesen des Exotismus, es sei die Wahrnehmung der Differenz und die Offenheit für diese Differenz - die Bereitschaft, die Welt als "das Andere" zu erfahren. Dabei spielt auch noch herein die Klassifizierung Rousseaus als "Naiven", wenn damalige Kritiker seine Malweise als "köstlich naiv", "kindlich und sanft" oder "frisch und rein" bzw. "ungekünstelt" charakterisierten. Im Grunde ging es Rousseau wohl darum, das Gewohnte zu entfremden. Wilhelm Uhde, der Verfasser der ersten Monografie über Rousseau, die 1911 veröffentlicht wurde, meinte, Rousseau begegne der Welt, als sei sie "täglich ein neues Erlebnis, dessen Gesetze er nicht kennt." Er "sieht und träumt die Welt zugleich" und lässt aus seiner Anhäufung von Details diese spezielle Art des "naiven Realismus" entstehen. Und so ergibt sich diese "Naivität" aus der "Exotik" des "Banalen".

Auffällig ist auch, dass in Rousseaus Bildern Perfektion und anscheinende Unvollkommenheiten aufeinanderprallen: z.B. fehlende Schatten, Verzerrungen der Proportionen oder perspektivische Unmöglichkeiten sowie die Steifheit und Maskenhaftigkeit der Figuren. Als eine mögliche Erklärung kann wohl der Reiz der Begegnung zwischen dem Wohlgeordneten und dem Unbekannten dienen. Rousseaus Blick ist eben häufig auch der eines Fotografen, seine Figuren und Motive scheinen auf das Klicken des Verschlusses zu warten. Damit hält er quasi seine Objekte in Schach. Er soll ja einmal einen Besucher gefragt haben: "Meinst du, meine Löwen halten still, wenn ich sie male?" Andererseits erlaubt das Statische eben auch den detailgetreueren Blick. In der Summe, wird in dem Katalog festgestellt, lehrte Rousseau die Moderne, "das Unbekannte aus formalen Bausteinen des Bekannten zu errichten." All die hier angesprochenen Aspekte dürften den Erwerb dieses vorliegenden Katalogs verlockend erscheinen lassen, wenn es einem nicht vergönnt ist, gleich selbst nach Basel zur Ausstellung zu fahren.

(KS; 02/2010)


"Henri Rousseau"
Hrsg. Fondation Beyeler, Text von Philippe Büttner,
Christopher Green, Franz Hohler, Samuel Keller,
Daniel Kramer, Simone Küng, gestaltet von Heinz Hiltbrunner.

Hatje Cantz, 2010. 120 Seiten.
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