Jacques Roubaud: "Der Verwilderte Park"
Station einer Flucht
Spätsommer 1942 auf einem französischen Landgut in der Nähe der
spanischen Grenze: Die zwölfjährige Dora findet hier mit ihrem Onkel
Vlad Unterschlupf und in dem Jungen, der "jetzt Jacques heißt",
wie er sagt, einen etwa gleichaltrigen Freund. Auch Jacques ist
lediglich Gast auf dem Gut. Richtig begreifen können die Kinder nicht,
warum sie ohne ihre Eltern in der Fremde sind, auch wenn sie immer
wieder Informationen aufschnappen.
Dora und Jacques entdecken den verwilderten Park des Anwesens für sich,
der den idealen Hintergrund für fantastische Spiele darstellt. Sie
finden ein leeres Bassin, einen verlassenen Weinberg mit wunderbaren
Tafeltrauben und Feigen, die ihre bescheidenen Mahlzeiten aufwerten,
sowie eine Art Höhle, in der sie sich verstecken. Hier führt Dora auch
Tagebuch. Und dieses Tagebuch bildet den Schlüssel zu den Ereignissen,
die die Kinder schließlich überrollen.
Die Geschichte der zwei Monate in einem scheinbaren Idyll wird
hauptsächlich aus Doras unschuldiger Sicht beschrieben. Nur selten wirft
Jacques etwas ein, der Jacques aus dem Jahr 1992 allerdings, der
eingeladen wurde, die Stätte zu besuchen, an der er mit Dora zwei
überwiegend fröhliche Monate verbracht hat. Jacques liest Doras wieder
aufgefundenes Tagebuch und erinnert sich.
An dieser Erzählung besticht die Mischung aus naiver kindlicher Sicht
mit einigen Ahnungen, denen sich auch die Kinder nicht entziehen können,
und dem Wissen des Lesers, das diese Perspektive immer wieder
überlagert. Verdrängen der Gefahr, spielerisches Verarbeiten und die
typische Neugier von Kindern lassen eine ganz eigenwillige Geschichte
entstehen, in der die Bedrohung durch die Nazis ebenso präsent ist wie
der spanische
Bürgerkrieg, den die Erwachsenen thematisieren, in der Stalingrad
und Churchill wichtige Stichwörter sind, die von den Kindern zur
Kenntnis genommen, aber nicht interpretiert werden.
Bedeutender sind Fahrradtouren in die Umgebung und die Tatsache, dass
Dora ebenso wie Jacques und die Zwillingsjungen des Hauses im Stehen
pinkeln kann, ein eindrucksvolles Gewitter und die Morsebotschaften des
Freundes der Tochter des Hausherrn. Als die Kinder begreifen, worum es
bei diesen rätselhaften Piepsgeräuschen in dunkler Nacht und an einem
geheimen Ort geht, versuchen sie, sich zu schützen. Aber die Deutschen
haben bereits Witterung aufgenommen.
Der Autor vermag es ausgezeichnet, sich in die kindliche Psyche
einzufühlen. Die eigenartige Mischung aus Ferienatmosphäre und
bedrohlicher Spannung fesselt den Leser. Manche Anspielungen werden erst
am Ende des Buchs verständlich, als der erwachsene Jacques die
Ereignisse jener Monate aufarbeitet und sich der Begegnung mit dem Ort
stellt, an dem er mit Dora zwei relativ unbeschwerte Monate verbracht
hat.
Still, friedvoll, ohne Ressentiment arbeitet der Autor die Geschichte
des Zweiten Weltkriegs in Frankreich auf. Die Angst bleibt im
Hintergrund präsent, das Fremde, das eigenartige Verhalten der
Erwachsenen. Gerade auf diese Weise jedoch wirkt das Leben in der
Diktatur, das Leben von Untergetauchten, die sich vor dem Entdecktwerden
fürchten müssen, besonders authentisch.
Eine ruhige, stimmungsvolle Erzählung, die den Leser unweigerlich in
ihren Bann zieht!
(Regina Károlyi; 03/2010)
Jacques Roubaud: "Der Verwilderte Park"
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.
Verlag Klaus Wagenbach, 2010. 121 Seiten.
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Jacques Roubaud wurde 1932 in
Caluire (Rhône) geboren.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Der verlorene letzte Ball"
Roubaud erzählt eine Geschichte, die harmlos beginnt: die Geschichte von
Laurent und seinem Freund NO, zwei Balljungen im Frankreich der Vichy-
Regierung. Auf einem Golfplatz belauschen sie das Gespräch eines
Gestapomannes mit dem Chef der französischen Miliz. Laurents Vater, im
Widerstand aktiv, war in Gefahr, in eine Falle zu laufen, wenn er
nicht rechtzeitig gewarnt würde. NO übernimmt diese Aufgabe, und Laurent
verspricht ihm dafür, 55.555 Golfbälle zu sammeln, die außerhalb des
Platzes gelandet waren, keinen mehr, keinen weniger.
Aus dem scheinbar überschaubaren Versprechen wird eine Aufgabe fürs
Leben, die Laurent sehr ernst nimmt: zu ernst, wie sich am Ende - auch
des Lebens von Laurent - herausstellt. (Verlag Klaus Wagenbach)
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