Orhan Pamuk: "Der Koffer meines Vaters"
Aus dem Leben eines Schriftstellers
Tiefgehende Einblicke in
die Welt des Orhan Pamuk
Orhan Pamuks Essayband "Der Koffer meines Vaters" ist ein wunderbares,
persönliches und teilweise auch sehr poetisches Buch, das einen äußerst
sympathischen und tiefen Einblick in das private und künstlerische Leben
des türkischen Nobelpreisträgers von 2006 gewährt.
Die in diesem Buch gesammelten Essays, Reden, Vorworttexte zu türkischen
Erstveröffentlichungen und kurze, teilweise autobiografisch inspirierte
Prosaminiaturen spannen den Bogen von seiner an seinen Vater und die
wichtige Rolle des Vaters im Leben von Orhan Pamuk erinnernden Rede zur
Empfangnahme des Nobelpreises
für Literatur bis hin zu seinem abschließenden "Paris Review"-Interview.
Dazwischen gibt es Essays und Texte, die in folgende Themengruppen
unterteilt sind: Leben, Istanbul, Amerika, Lesen und Bücher, Meine
Bücher sind mein Leben, Bilder und Texte, Politik und
Staatsbürgerschaft, sowie das bereits erwähnte Interview.
"Wenn ich an meine vierundfünfzig Lebensjahre zurückdenke, habe ich
jemanden vor mir, der ständig voller Glücks- und Unglücksgefühle am
Schreibtisch sitzt und arbeitet. Ich habe meine Bücher stets
sorgfältig und geduldig und mit besten Vorsätzen geschrieben und immer
an sie geglaubt. Erfolg, Ruhm und berufliches Glück ... von selbst
gekommen sind sie nicht."
Auf ganz wundersame Art und Weise berührt Orhan Pamuk den Leser, wenn er
ihn an diesen teilweise sehr privaten Betrachtungen teilhaben lässt.
Seine Gedanken zum Aufstehen in stiller Nacht, zum Gefühl, das sich
einschleicht, wenn man nicht mehr raucht, zur poetischen Gerechtigkeit,
die Bemerkungen über Traum und Schuldgefühl, zur schönsten Uhr und über
Frühlingsnachmittage sind funkelnd, geistreich und literarisch von
feinstem Schliff, während manche vom Autor selbst illustrierte
Miniaturen sich in teilweise sehr reduzierter, direkter, fast naiver
Sprache entfalten.
"Wenn ich mit meiner kleinen Tochter Rüya an den Strand gehe, bin ich
der glücklichste Mensch der Welt. Und was will der glücklichste Mensch
der Welt am allermeisten? Natürlich weiterhin der glücklichste Mensch
der Welt sein. Dazu muss er immer wieder das gleiche tun. Also tun wir
immer das gleiche."
Großartige, stille und entrückte Momente haben die drei Istanbul und die
beiden Amerika gewidmeten Essays, die, sich kleiner Geschichten
bedienend, tief in die Welt der ganz unterschiedlichen und doch viele
Ähnlichkeiten aufweisenden Städte New York und Istanbul eintauchen.
Über interessante literarische Essays zu "Tristram
Shandy", Victor
Hugos Passion für Größe, Albert
Camus, zur Romanwelt Thomas
Bernhards, zu Ahmet Hamdi Tanpinar und Salman
Rushdies "Die satanischen Verse" und der damit verbundenen
Freiheit des Autors, führt der Leseweg zum Abschnitt "Meine Bücher sind
mein Leben", der den Büchern des Autors gewidmet ist.
Überzeugend und spannend, wie Orhan Pamuk hier seinen Schaffensprozess
und die Entstehungsmomente seiner Romane, seine Schaffenswerkstatt quasi
wie auf den Präsentierteller legt und dem interessierten Leser einen
möglicherweise neuen Zugang zu seinen Romanen ermöglicht. Eine feine,
schwarzweiß gehaltene Fotoserie aus Kars begleitet den Essay zu
"Schnee"; Fotos, die die Schneewelt von Kars und "Schnee" eindringlich
näher bringen. Pamuks differenzierte und komplexe Romanwelt als subtil
erklärter Mikrokosmos, das ergibt eine spannende literarische Reise.
Die etwas weniger interessanten Essays dieses Bandes sind die wenigen,
die sich mit Politik beschäftigen, was aber nach Meinung des Rezensenten
eine Frage der absoluten Unvereinbarkeit von Politik und Kunst in einer
so klaren literarischen Form ist. Obschon Orhan Pamuks Gedanken und
politische Ansichten bewundernswert und klar nachvollziehbar sind, fehlt
ihnen die literarische Motivation, was sie für diesen Band entbehrlich
erscheinen lässt.
"Der Koffer meines Vaters" ist ein aufregender und beeindruckender Band,
der den Wunsch, weiter in den literarischen Kosmos dieses Autors
einzudringen, eindeutig geweckt hat und in dem man jederzeit gerne
einzelne oder mehrere Texte wieder lesen möchte.
"Ich weiß, dass ich jetzt, im April 2007, im Alter von vierundfünfzig
Jahren, schon mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir habe, aber
ich glaube, dass mein bisher zweiunddreißig Jahre währendes
Schriftstellerleben erst bei der Hälfte angelangt ist. Vor mir sollten
noch einmal zweiunddreißig Jahre liegen, in denen ich Bücher schreiben
kann, die meine Mutter und andere Leser überraschen."
Möge dieser Wunsch Orhan Pamuks in Erfüllung gehen.
(Roland Freisitzer; 03/2010)
Orhan
Pamuk: "Der Koffer meines Vaters. Aus dem Leben eines
Schriftstellers"
Übersetzt aus dem Türkischen von Ingrid Iren und Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag, 2010. 339 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Cevdet und seine Söhne"
Ein großer europäischer Familienroman, der durch drei Generationen einer
Istanbuler Familie führt und zugleich den Weg der Türkei in die Moderne
zeichnet.
Ein heißer Sommertag im Istanbul des Jahres 1905. Der aufstrebende junge
Geschäftsmann Cevdet fährt mit der Kutsche kreuz und quer durch die
Stadt, besucht seinen schwerkranken Bruder, der, ganz anders als er, mit
revolutionären Ideen liebäugelt, macht eine Visite bei der
herrschaftlichen Familie seiner Verlobten, die er allerdings nur ganz
flüchtig zu Gesicht bekommt. Im Lauf des Tages wird er mit verschiedenen
Konfessionen und Nationalitäten, Weltanschauungen und sozialen
Verhältnissen konfrontiert und versucht, sich über seine eigene
Identität und seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft im klaren zu
werden. Dreißig Jahre später stehen Cevdets drei Kinder und ihre Freunde
im Mittelpunkt: Osman, Nachfolger im Lampengeschäft des Vaters, Refik
der Träumer, die widerspenstige Ayse. Seit der Machtübernahme durch
Atatürk hat sich auch für sie alles verändert: die Zeitrechnung, die
Kleidung, die Schrift, das ganze politische System.
Eindringlich, nuanciert und stimmungsvoll schildert Pamuk in seinem
großen Familienepos Aufstieg und allmählichen Niedergang einer Dynastie.
Bereits in diesem seinem ersten Roman erweist sich Orhan Pamuk als
Erzähler von Weltrang. (Hanser) zur
Rezension ...
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Weitere Buchtipps:
Klaus Kreiser: "Geschichte Istanbuls. Von der Antike bis zur
Gegenwart"
Istanbul, das alte Konstantinopel, gehört wie Rom oder Jerusalem zu den
ältesten Metropolen der Welt. Die Hauptstadt dreier Großreiche - des
oströmischen, des byzantinischen und des osmanischen - konnte auch nach
der Verlegung der Regierung nach Ankara ihre kulturelle und
wirtschaftliche Vorrangstellung behaupten. Klaus Kreiser beschreibt die
Entwicklung der Stadt am Bosporus von der frühesten Besiedlung bis
heute. Damit liegt erstmals ein Überblick über die gesamte Geschichte
der Stadt vor. (C.H. Beck)
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Erika Glassen, Hasan
Özdemir (Hrsg.): "Im Reich der Schlangenkönigin. Märchen, Schwänke,
Helden- und Liebesgeschichten"
Es war einmal, es war keinmal ... beginnt so manches Märchen, das den
Leser in die Welt der Feen,
Riesen und Dämonen
führt, ins Reich der Schlangenkönigin Sahmeran, dorthin, wo Zauberkräfte
walten. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie sind durchlässig,
als Schlupfloch dient ein Brunnen, den Sahmeran als Honigspeicher nutzt.
Diese verwunschene Welt der orientalischen Märchen ist dem Leser aus
Tausendundeine Nacht vertraut. Das unerschöpfliche arabische Erzählwerk
zeigt, dass Araber, Perser, Türken und Inder in vormoderner Zeit eine
reiche, gemeinsame Märchen- und Mythentradition pflegten.
Die türkischen Volkssänger und Märchenerzähler haben im
kulturellen Schmelztiegel Anatolien Mythen verschiedener Herkunft
übernommen und mit ihrer eigenen Tradition verbunden. (Unionsverlag,
Türkische Bibliothek)
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