Amos Oz: "Geschichten aus Tel Ilan"


Ein besonders zartes und sensibles Zeitdokument des Lebens und Alltags im heutigen Israel

Denn Israel, das ist nicht nur das umkämpfte und geteilte Jerusalem, nicht nur das westliche Tel Aviv, wo Leon de Winters Roman "Das Recht auf Rückkehr" und das Buch des israelischen Autors Nir Baram ("Der Wiederträumer") spielen, sondern Israel, das sind auch unzählige Dörfer wie Tel Ilan und seine Bewohner.

Tel Ilan ist ein frei erfundenes Dorf. Vor mehr als hundert Jahren gegründet, ist es umgeben von Weinbergen und Obstplantagen. Doch die Landwirtschaft ist stark zurückgegangen, die meisten Menschen in Tel Ilan leben vom Tourismus, der insbesondere an Wochenenden das Dorf sowohl heimsucht als auch ihm seinen Wohlstand sichern hilft.
Die Menschen und ihre Geschichten, die zum Teil zusammenhängen und sich aufeinander beziehen, die Amos Oz erzählt, sind sich fremd geworden. Zwar leben sie alle in einem kleinen und überschaubaren Kosmos, wo jeder alles vom Anderen weiß, aber es ist ihnen mit der Zeit etwas abhanden gekommen, ohne dass sie zu sagen wüssten, wie und wann.

Amos Oz' "Geschichten aus Tel Ilan" erzählen etwas, das nicht nur für Menschen in Israel gilt. Sie beschreiben den Zustand und die Erfahrungen einer existenziellen Einsamkeit. Alle bewegen sie sich in einem schmalen Erfahrungsraum von dem, was alles in ihrem Leben hätte geschehen können, und dem, was vermutlich für immer verloren ist.

Da wartet die kinderlose Ärztin der Krankenhausambulanz, Gili Steiner, bei strömendem Regen in einer Bushaltestelle vergeblich auf ihren Neffen. Er ist der einzige Mensch, dem sie sich nahe fühlt. Doch er kommt nicht, und sie geht, nachdem auch der Busfahrer, den sie aufsucht, ihr nicht weiterhelfen kann, nach Hause, weint ein wenig, verrichtet ihre Dinge und geht ins Bett. Morgen wird ihr Leben genauso grau und einsam weitergehen.

Da ist die junge Studentin, die sich mit einem Immobilienmakler in den feuchten und dunklen Kellern ihres Kindheitshauses verliert. Da sind unter dem Haus des ehemaligen Knessetmitglieds Kedem, wo er mit seiner Tochter lebt, undefinierbare Kratz- und Grabgeräusche zu hören. Sie fragen sich, ob es das in der Stille schlagende eigene Herz ist, oder die Laute des Feindes, der sie unterminiert.

Trotz vieler Anspielungen auf das aktuelle Geschehen in Israel hat Amos Oz eindrücklich davor gewarnt, sein Buch und die Geschichten, die es erzählt, als eine Allegorie auf Israel zu deuten, obwohl das für den Rezensenten manchmal ähnlich nahe lag wie bei Nir Barams Roman "Der Wiederträumer". Doch nicht jedes Stück Literatur, das in diesen Zeiten aus Israel kommt, will allegorisch gelesen werden.

Die Erfahrung der Einsamkeit und Entfremdung machen viele Menschen in diesen Zeiten in vielen Ländern, doch ist es vielleicht in jenem kleinen Land besonders tragisch, denn das kleine Israel  kann nur überleben, wenn es seine  innere Kälte, seine Widersprüche, seinen bis in die Seelen der Menschen reichenden permanenten Kriegs- und Verteidigungszustand überwindet und zu einem neuen Verständnis findet, wo vielleicht in Dörfern wie Tel Ilan Menschen, die vorher Feinde waren, friedlich miteinander leben und einander nicht mehr vernichten wollen.

Nun ist doch die allegorische Versuchung wieder übermächtig geworden.  Überall wohnen wie in Tel Ilan Menschen Haus an Haus und sind trotz der Nähe, die das bedeutet, doch für sich. Ob für die Zukunft Lebensformen in Dorf und Stadt denkbar sind, die dieser Einsamkeit etwas entgegensetzen? Man darf skeptisch bleiben.

(Winfried Stanzick; 01/2010)


Amos Oz: "Geschichten aus Tel Ilan"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp, 2009. 187 Seiten.
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