Hanns-Josef Ortheil: "Die Moselreise"
Roman eines Kindes
Archiv des Lebens
"Ich brauche das tägliche Notieren und Schreiben (...)
lebensnotwendig, ich brauche es seit den frühen Kindertagen, seither
habe ich nicht aufgehört, Tag für Tag notierend und skizzierend zu
schreiben. Inzwischen füllen meine täglichen Notate und Skizzen
Tausende von schwarzen Kladden."
Dieses außergewöhnliche Weben bunter Teppiche aus Schriften und Bildern
- Hanns-Josef Ortheil nennt sie die "Architektur eines Tages, (...)
seine Komposition, (...) die Folge seiner Phasen, Erlebnisse und
Atmosphären" - hat eine ganz konkrete Ursache. Weil seine Mutter
nach einem schweren Schicksalsschlag ihre Sprache verloren hat, bleibt
auch Ortheil bis zu seinem siebenten Lebensjahr stumm. Er wächst in
einer Art autistischer Symbiose zu ihr auf; in einem Spielzeugland, in
einer beinahe geräuschlosen Zone. Nur der Vater fungiert als
verbindendes Glied zur Außenwelt. Bei einem längeren Aufenthalt mit dem
Vater auf dem Land spricht er seine ersten Worte.
All dies hat der Autor bereits in seinem autobiografischen Roman "Die
Erfindung
des Lebens" verarbeitet. "Die Moselreise" geht noch tiefer, an die
Wurzeln seiner eigenen Geschichte. Diese Reise entwickelt sich zu einem
entscheidenden Wendepunkt in Hanns-Josef Ortheils Leben, weg vom "stummen
Idioten", "der Raum
und
Zeit kaum erlebt" und hin zum "Leser, der Räume und
Zeiten auf sich bezieht und ihre Wirkungen auf die Wahrnehmung
protokolliert." Durch sein tagtägliches Notieren dessen, was er
sieht und hört, kämpft er gewissermaßen gegen die Angst, die Sprache
wieder zu verlieren. "Denn in den Spuren der Schrift ist das
Vergehen, aber auch die Formung von 'Zeit' ablesbar ..."
Die Notate verfolgen eine fast zweiwöchige Wanderung
entlang der Mosel, die Ortheil im Sommer 1963 mit seinem Vater macht. Es
handelt sich um eine Reiseerzählung aus den Augen des damals
Elfjährigen. Gleichzeitig zeugt sie aber auch von "einer intensiven
Annäherung an all die Welten (...), in denen der Vater zu Hause ist.
(...) Dadurch aber wird die Fremde zu einem Raum, der durch den
vertrauten und immer selbstverständlicher werdenden Umgang mit dem
Vater allmählich seine bedrohliche Fremdheit und Ferne verliert."
Der Untertitel "Roman eines Kindes" ist indes wohl etwas weit hergeholt.
"Die Moselreise" darf eher als ein essayistisch geprägtes Protokoll von
Gesprächen und Eindrücken, ergänzt durch Fotos, diverses Textmaterial,
Vor- und Nachbetrachtungen, als angereicherte Reisecollage angesehen
werden. Der kindlich-einfache Duktus zeugt bereits in Ansätzen von der
für den heute renommierten Schriftsteller prägenden Sprachbegeisterung.
Der Erzählfluss mäandert gemächlich; angepasst an das Unterwegssein des
Buben zu Fuß entlang der Mosel. Allerdings kann das schmale Büchlein
nicht an den wunderbaren Roman "Die Erfindung des Lebens" heranreichen,
soll es vielleicht auch nicht. Es fungiert eher als liebevolle
Ergänzung, als Momentskizze eines Auf- und Umbruchs, als Schwelle auf
dem Weg ins Erwachsenenleben.
(Heike Geilen; 11/2010)
Hanns-Josef Ortheil: "Die Moselreise.
Roman eines Kindes"
Luchterhand Literaturverlag, 2010. 223 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des
Autors:
"Was ich liebe und was nicht" zur
Rezension ...
"Liebesnähe"
Ein Mann und eine Frau treffen in einem Hotel im Alpenvorland ein. Sie
bemerken einander und tauschen von da an geheime Zeichen aus. Kleine
Botschaften, Hinweise auf Lektüren und Musikstücke - und ohne dass sie
auch nur ein einziges Wort miteinander wechseln, verwickeln sie sich in
das Mysterium der Annäherung und einer ungewöhnlichen Liebe, für die nur
die Liebe selber zählt. "Liebesnähe" ist die Geschichte einer Frau und
eines Mannes, die sich zufällig in einem einsam gelegenen Hotel treffen.
Vom ersten Augenblick dieser Begegnung an erleben beide eine rasch
wachsende Anziehung. Sie sind zu vorsichtig, miteinander zu sprechen und
verlegen sich stattdessen auf ein virtuoses Spiel von Zeichen und
Andeutungen. Im Hintergrund dieser Annäherung zieht die Besitzerin der
Hotelbuchhandlung als geheime Mittlerin ihre eigenen Fäden: Sie
"füttert" die beiden Liebenden mit Büchern, die - wie der Liebestrank in
"Tristan und Isolde" - eine ganz eigene, magische Wirkung entfalten und
aus dem Liebesspiel schließlich ein kaum noch durchschaubares Labyrinth
aus Erlebtem, Geträumtem und Gelesenem machen.
Erst langsam entdecken die Liebenden die jeweils eigene Sprache der
Liebe mit all ihrem unverwechselbarem Vokabular. (Luchterhand
Literaturverlag)
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