István Örkény: "Das Lagervolk"
Ein dramatisches
Zeitzeugnis
Die so genannte Lagerliteratur hat in Ungarn eine lange Tradition. Man
könnte István Örkénys hier besprochenen Roman "Das Lagervolk" als
Pionierwerk bezeichnen und Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen"
als einen der ganz großen Höhepunkte.
Um Örkénys Buch zu verstehen, muss man dessen Vita kennen: Der 1912 in
Budapest geborene jüdische Apotheker und Chemiker verbrachte fünf Jahre
in russischer Kriegsgefangenschaft. Seine Eindrücke schrieb er unter
primitiven Verhältnissen auf, und als sich dies herumsprach, vertrauten
ihm etliche seiner Kameraden ihre Lebensgeschichten an. Örkény wurde so
etwas wie ein Chronist der ungarischen Kriegsgefangenen. Als seine
Aufzeichnungen veröffentlicht wurden, musste er sich jedoch auch massive
Kritik gefallen lassen. Denn zu dieser Zeit war Ungarn kommunistisch,
und es schien ausgeschlossen, dass Gefangene der Sowjets, der
Befreier, in deren Lagern Hunger gelitten hatten und misshandelt
worden waren.
Örkény berichtet vom Alltag im Lager, vom Hunger als vorherrschendem
Gefühl, von Heimweh und dem unheimlichen Vergessen, das die Insassen
befällt, bis sie sich nicht einmal mehr der Namen ihrer Kinder erinnern
können. Die typischen Tricks zum Überleben, kleine Diebstähle, das
Sich-Drücken vor harter körperlicher Arbeit, beschreibt er ebenso
detailliert wie Versuche, ein wenig kulturelles Leben ins Lager
einzuführen: Musik und Theater vor allem, teils Adaptionen an bestehende
Literatur, teils Kompositionen und Dichtung von Lagerinsassen. Viele
versuchen auch mittels Vorträgen, ihren Kameraden intellektuelle Anstöße
zu geben.
Dem Leser wird das Lagerleben rasch vertraut, er lernt die Hierarchie
kennen, die sich so stark von jener im zivilen und militärischen Alltag
unterscheidet, er erfährt, wie Gefangene ihnen völlig fremde Tätigkeiten
übernehmen und in ihnen brillieren, sofern diese Herausforderungen
beinhalten. Der so unmittelbar nach dem Krieg noch stark präsente
Antisemitismus gehört ebenfalls zu den zentralen Themen des Romans, und
Örkény beleuchtet die Haltung der Juden, jener Glaubensgemeinschaft, der
er selbst angehört, durchaus nicht unkritisch.
Den Abschluss von Örkénys Roman bilden zehn Kurzbiografien, an deren
Authentizität man nicht recht zweifeln mag. Ganz unterschiedliche Männer
erzählen ihr Leben - ein Musiker zum Beispiel oder eine vom Vater in ein
Heim abgestoßene und später zu den Kommunisten gestoßene Halbwaise, ein
einfacher Monatslöhner, ein Spross einer verarmten Adelsfamilie oder
auch ein engagierter Pfeilkreuzler (so nannten sich die ungarischen
Nazis). Alles, was dieser Menschen verbindet, ist ihr
Zusammentreffen in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft.
Der reichhaltige Anhang enthält Reaktionen auf Örkénys Roman, zumeist
zeitnah nach dem Erscheinen in Form von Leserbriefen und von Repliken
des Autors. Das Nachwort stammt - nicht verwunderlich - von Imre
Kertész. Anmerkungen des Übersetzers erläutern historische
Persönlichkeiten und Ereignisse, auf die im Roman eingegangen wird, und
die dem deutschsprachigen Leser vermutlich nicht vertraut sind.
"Das Lagervolk" gehört zu Örkénys literarischem Frühwerk. Dem
deutschsprachigen Leser der Generationen, die mit dem Zweiten Weltkrieg
und den Leiden Kriegsgefangener nicht unmittelbar vertraut sind, mutet
der Roman fremd an, nicht zuletzt, weil er zur Auseinandersetzung mit
Ungarns neuerer Geschichte zwingt, geht es doch unter anderem auch in
den zehn Kurzbiografien um die höchst komplexen Beziehungen zwischen den
Ungarn und den in ihrem Staat lebenden Minderheiten wie den
Donauschwaben und den Juden, aber auch dem Problem der ungarischen
Minderheit in den nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien zugeschlagenen
Gebieten Ungarns - und der Solidarisierung im Lager. Natürlich ist auch
das Verhältnis zu den Deutschen, die ebenfalls in großer Zahl
Kriegsgefangene waren, ein wesentliches Thema.
Örkény erweist sich als guter Beobachter, und er schildert die
Verhältnisse und die Lebenswege ohne übertriebenes Pathos, doch
eindringlich genug. Der Adlige und der kaum des Lesens und Schreibens
kundige Arbeiter haben für ihn denselben Stellenwert. Als Jude
betrachtet er das Verhältnis der Mehrheit in den Lagern zu den
Minderheiten sehr differenziert, um Objektivität bemüht, die freilich
unmöglich ist. Und in den Schilderungen dieses gewaltigen, für
Nachgeborene kaum nachvollziehbaren Elends offenbart sich die Hoffnung
auf eine Neuordnung, eine bessere Welt, in der Völker und Minderheiten
nebeneinander zu leben vermögen, geeint vom Streben nach Glück oder
zumindest nach Zufriedenheit.
(Regina Károlyi; 05/2010)
István Örkény: "Das Lagervolk"
Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer. Mit einem Nachwort
von Imre Kertész.
Suhrkamp, 2010. 383 Seiten.
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István
Örkény,
1912 in Budapest geboren, war Apotheker und Chemiker. 1938 debütierte
er mit der Erzählung "Ringelreihen", die seinem ersten Novellenband
von 1941 den Titel gab. 1942 wurde Örkény eingezogen. Weil er Jude
war, musste er in einem Arbeitsbataillon an der russischen Front
dienen. Nach fünf Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft kehrte
er nach Budapest zurück. 1953 veröffentlichte er seinen ersten Roman
"Eheleute". 1955 folgte der Novellenband "Im Schneesturm". Seit 1956
zu einem mehrjährigen Schweigen verurteilt, wurde er erst Mitte der
1960er-Jahre einem größeren Publikum bekannt. Im Ausland nahm man ihn
als den bedeutendsten ungarischen Dramatiker seit dem Zweiten
Weltkrieg wahr. Er schrieb Kurzromane und Erzählungen. Als Schöpfer
einer neuen erzählerischen Gattung, der "Minutennovelle", gilt er
heute als Klassiker der Moderne.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Minutennovellen"
Ausgewählt und aus dem Ungarischen von
Terézia
Mora. Mit einem Nachwort von
György
Konrád.
Der ungarische Schriftsteller István Örkény (1912-1979) hat eine
literarische Form erfunden: die Mininovelle, deren Lektüre nicht mehr
als eine Minute beansprucht und deren Titel unmissverständlich sein
muss wie die Nummer einer Straßenbahn. Er schrieb sie "während der
wenigen freien Stunden, die er der Geschichte abtrotzen konnte"
- einer Geschichte, die ihm vor allem Verfolgung, Krieg,
Gefangenschaft und den unberechenbaren Alltag in einer repressiven
Gesellschaft zugedacht hatte. In diesen "Märchen aus dem 20.
Jahrhundert" (György Konrád) lesen wir von einem kleinen Mädchen
in Russland, das fasziniert die neue "Leica"-Kamera betrachtet, mit
der die Hinrichtung seiner Mutter aufgenommen wird; von einer Tulpe,
die sich vom Fensterbrett stürzt, weil sie keine Tulpe mehr sein will;
oder von der Pförtnerin eines Unternehmens, die zwanzig Jahre lang die
selbe Auskunft gibt, bis sie eines Tages einen unerhörten Satz spricht
und für Sekunden ein Loch in die Welt schlägt.
Die "Minutennovellen", deren Humor und Rätselhaftigkeit an Kafka
erinnern, gehören längst zu den Klassikern der osteuropäischen
Moderne. In wenigen Zeilen die Essenz eines Lebens, in einem simplen
Dialog die Absurdität einer Epoche festzuhalten - das ist die hohe
Kunst dieses Autors, der seine Texte gern mit Brühwürfeln verglich,
aus denen der Leser sich eine Suppe kochen soll. (Bibliothek Suhrkamp)
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