Christiane Neudecker: "Das siamesische Klavier"
Unheimliche Geschichten
Nur bedingt überzeugende
Geschichten
Die Auszeichnungen und Preise, die Christiane Neudecker in ihrer noch
jungen Karriere als Schriftstellerin bereits einheimsen konnte, sprechen
eine beeindruckende und deutliche Sprache. Doch weniger beeindruckend
und somit etwas enttäuschend war für den Rezensenten die Sprache der
Autorin in ihren hier vorgestellten Geschichten. Es ist die zerhackte
Sprache der Rapper-Generation, in lakonischer Kürze tropfen die
Sätze ins Bewusstsein des aufnahmebereiten Lesers, Anglizismen wuchern
wie Unkraut, und fehl am Platze empfand ich auch den andauernden
Einschub englischer Sätze und Satzfragmente in den Text. Das liest sich
dann so: "Once more, ruft der Regisseur in die plötzliche Stille
hinein, noch mal, come on, was ist denn los." Und dann: "Dass
ich mal kurz an die frische Luft müsse, habe ich der Assistentin
zugeflüstert, I need some fresh air, und, mit Blick auf den Rücken des
Regisseurs, der auf seinen Stuhl zurückgesunken ist: tell him."
Gleich die Auftakterzählung und Titelgeschichte "Das Siamesische
Klavier" blieb weit hinter meinen Erwartungen zurück. Für mich ist es
die mit Abstand schwächste Erzählung dieses Bandes. Was da vielleicht
eine unheimliche Geschichte werden sollte, gerät zu einer
einschläfernden Gute-Nacht-Geschichte, geeignet für den Rezipienten, der
nicht so sehr auf den Text achten sondern sich mehr von der Monotonie
der Sprache einlullen lassen möchte. Bei dem siamesischen Klavier
handelt es sich um ein merkwürdiges Klavier, an dem beinahe sämtliche
Bestandteile doppelt vorhanden sind, Tasten, Pedale und so weiter, ein Klavier,
das mitten im Dschungel des Amazonasbeckens gefunden wird, zunächst
Verwunderung hervorruft, um schließlich bei der Konzertpremiere für
Chaos und Aufruhr zu sorgen. Die Autorin bedient sich hier leider über
weite Strecken eines üblen Fach-Kauderwelschs, so als wolle sie ihre
Leser in die Propädeutik der Pianistik einführen. Man erfährt von
Bartolomeo Christofori, dem Erfinder des modernen Klaviers, vom
Pleyelschen Doppelflügel, von den Steinways, Bechsteins und anderen
Klavierbauern, vom richtigen Adagio molto e cantabile, von Sonatinen,
Präludien et cetera. Im Originaltext: "Und jetzt, hier, diesen
leisen Aufwärtslauf: den müsste man auf die Tatstatur hintupfen.
Stattdessen poltern die da hoch als wären die Noten eine Lieferrampe.
Und dann hat man immer noch das Nachscheppern des zweiten Satzes im
inneren Ohr. Sie hetzen und jagen nebeneinander her - und hämmern dann
nach der Generalpause die Oktavsprünge ...". Natürlich bleibt auch
Lang Lang nicht unerwähnt, und von Franz Liszt assimiliert Frau
Neudecker als Ich-Erzähler(in) sogar die Gedanken.
Auch von der Idee her fand ich die Auftakterzählung ziemlich schwach.
Schon wesentlich besser gefiel mir die zweite der insgesamt sieben
Novellen "Gerufene Geister oder der Carpenter-Effekt". Kinder, die sich
während ihres Aufenthaltes in einem Schullandheim in okkulte und
spiritistische Machenschaften verstricken, sind hier die
Hauptprotagonisten. In dieser Erzählung klingt denn auch ein wenig von
der Meisterschaft an, die die "FAZ" der Autorin attestiert hat. Die
atmosphärisch aufgeladenen Bilder, die Christiane Neudecker hier kreiert
hat, vermochten auch mich zu überzeugen. Aber von der Idee her auch
wieder mehr altbacken als originell.
26 Seiten volle Pulle, 26 Seiten pur Reißerisches werden uns in der
nächsten Geschichte geboten, die von einer Kampfsportveranstaltung mit
fatalem Ausgang erzählt. Während hier die schon angesprochenen
verhackstückten Sätze durchaus angemessen erscheinen, dem turbulenten
Geschehen angepasst, fand ich sie in anderen Geschichten eher nervig.
Dazu ein kurzes Beispiel aus der unmittelbar folgenden vierten
Geschichte, in der Identitätsprobleme des männlichen Ich-Erzählers im
Brennpunkt stehen: "Hongkong. Dim Sum. Warum nicht. Hier hält mich
nichts. Gonzales. Er macht nichts aus seinem Leben. So einen brauche
ich nicht. Der Hund. Von denen gibt es viele. Man soll sich nicht
anbinden an jemanden. Schon gar nicht an ein Tier."
Darauf folgt eine Erzählung mit dem Titel "J'adoube", die von einer
Internet-Schachpartie
mit einem Toten berichtet. Am besten aber gefiel mir die Geschichte "Der
Erlkönigjäger"; sie erzählt von einem merkwürdigen Duell, einem
gegenseitigen Belauern
in der Polarnacht im Norden Skandinaviens. Auf der einen Seite
eine Kamera, auf der anderen Seite ein Gewehrlauf. Auch hier vermag die
Autorin wieder eine bedeutungsschwangere, flirrende Atmosphäre zu
generieren. Thematisiert wird hier die Industriespionage. Den
Schlusspunkt setzt die Erzählung "Wo viel Licht ist". "Wo viel Licht
ist", im Falle dieser Geschichte in Hongkong, wo sie nämlich spielt,
lässt leider auch wieder Originalität vermissen und greift ein beliebtes
Motiv der fantastischen Literatur auf: einen Schatten, der sich
selbstständig macht. Den Schluss dieser Erzählung fand ich eher schwach,
und das gilt mehr oder weniger auch für die anderen Erzählungen dieses
Bandes. Zu Vieles bleibt Anspielung. Die Autorin verweigert immer wieder
Antworten und lässt ihre Leser über viele Dinge im Unklaren. Auch das
Unheimliche kommt allenfalls in homöopathischer Verdünnung zum Tragen,
was allerdings auch mitunter recht wirkungsvoll sein kann. Gemeinsam ist
allen Geschichten, dass die darin Agierenden eine Metamorphose meist
psychischer Art durchmachen, Christiane Neudeckers Geschichten handeln
vom Verwischen der Grenzen, vom Aufweichen des scheinbar Festgefügten,
von dem, was hinter dem vertrauten Alltäglichen lauert.
Insgesamt gesehen fand ich diesen Erzählband recht unterhaltsam,
bisweilen aber auch banal. Angesichts der Lorbeeren, mit denen
Christiane Neudecker bereits von Juroren und Kritikern bedacht wurde,
war ich letzten Endes aber doch ein wenig enttäuscht davon.
(Werner Fletcher; 03/2010)
Christiane Neudecker: "Das siamesische
Klavier. Unheimliche Geschichten"
Luchterhand Literaturverlag, 2010. 220 Seiten.
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Christiane Neudecker, geboren
1974, studierte Theaterregie an der "Hochschule für Schauspielkunst
Ernst Busch" in
Berlin. Sie ist Regisseurin beim Berliner Künstlernetzwerk "phase7
performing.arts". Im Jahr 2005 erschien ihr Erzähldebüt "In der Stille
ein Klang", 2008 ihr erster Roman "Nirgendwo sonst", für den sie den
"August-Graf-von-Platen-Förderpreis" und den "Förderpreis für Kunst und
Wissenschaft der Stadt Nürnberg" erhielt. Neudecker hat für ihr
Schreiben zahlreiche weitere Auszeichnungen erhalten, u.A. den
"Wolfram-von-Eschenbach-Förderpreis", den "Alfred-Gesswein-Preis" und
das "Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds 2009".
Weitere Bücher der Autorin:
"Nirgendwo
sonst"
Burma, im Herbst 2004: Ein Mann hetzt durch das Land. In der so
faszinierenden wie bedrohlichen Welt des abgeschotteten Militärstaates
sucht er die Frau, die ihn soeben verlassen hat. Je tiefer aber der
Deutsche in das Innere von Burma vordringt, desto mehr verliert er
nicht nur ihre Fährte, sondern auch: sich selbst. Was wie eine
traumhafte Abenteuerreise begann, wird zu einer verschlungenen
Irrfahrt in das eigene Ich - und in die Untiefen der Vergangenheit.
Denn in einem Land, das so vieles verbirgt, kann man sich auf nichts
verlassen - schon gar nicht auf sich selbst. (btb)
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"In der Stille ein Klang"
Ein Klangentwerfer für Autos,
der in Dubai bei der Entwicklung eines Prototyps nicht nur seinen
Arbeitsplatz verliert; das frisch getrennte Paar, das sich im
spätsommerlichen Paris immer weiter voneinander entfernt; eine
nächtliche Passantin, die sich beim Anblick einer Straßenskulptur ihrem
toten Vater gegenübersieht: In dreizehn kraftvollen, berührenden und
verstörenden Erzählungen trifft der Lärm der Alltagswelt auf Abgründe
der Stille - ein Zusammenprall, aus dem eine neue, eindrückliche und
ungewöhnlich welthaltige Stimme der deutschsprachigen Literatur
entsteht. (Sammlung Luchterhand)
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"Sommernovelle" zur Rezension ...