Natalie Angier: "Naturwissenschaft"
Was man wissen muss, um die Welt zu verstehen
Wissenschaftliches Denken
- Eine außerkörperliche Erfahrung oder Sisyphos und der Spaß
"Wissenschaftsbegeisterung ist etwas für die Jungen, die Ruhelosen,
die Ritalinkonsumenten. Es ist der Spaß in der Warteschleife, während
Ihre Keimdrüsen eifrig reifen; der Tag, an dem die Pariser
Vergleichsausstellung von Matisse
und Picasso
Sie mehr interessiert als der Omnimax-Film über Spinnen ist der
Debütantenball für Ihr Gehirn. Hier bin ich! Komm und hol mich! Aber
vergiss den Proust
nicht!" Mit diesen sarkastischen Worten umreißt die
Wissenschaftsjournalistin Natalie Angier die Abkehr vieler Jugendlicher
von den Naturwissenschaften, die sich meist ein ganzes Leben hält.
Physik, Chemie oder Biologie gelten in der öffentlichen Vorstellung als
langweilig, verwirrend, schwierig, abstrakt und peripher. Also warum
sich damit beschäftigen und nicht einfach mit Fernsehen, Ferien und
Feiern zufrieden geben?
Sich naturwissenschaftliche Kenntnisse anzueignen kann durchaus Spaß
machen, "auf die Art, wie kluge Ideen Spaß machen, wie der Blick
unter die Oberfläche der Dinge Spaß macht. Zu verstehen, wie etwas
funktioniert, macht einfach Freude", so Angier. Und nicht zuletzt
trägt die Grundlagenforschung von heute entscheidend zum Wohlstand von
morgen bei - ganz zu schweigen davon, dass sie Geheimnisse des Lebens
und Universums erhellt. Das sollte jedem klar sein.
Doch die Wissenschaft gibt zu, dass sie am Desinteresse der Bevölkerung
selbst nicht ganz unschuldig ist. Peter Galison, Professor für die
Geschichte der Physik an der Harvard Universität, äußert seine ironische
Bewunderung für die Gründlichkeit, mit der dem öffentlichen Bild der
Naturwissenschaften jede Spur von Freude genommen wurde: "Wir haben
wirklich hart gearbeitet, um diese bemerkenswerte Leistung zu
vollbringen, denn ich habe nie ein kleines Kind getroffen, das nicht
wirklich Spaß und Interesse an den Naturwissenschaften gehabt hätte.
Doch nachdem wir jahrelang öde Lehrbücher mit grausamen Abbildungen
verfasst, unsere Wissenschaft als einen nicht zu knackenden Code
präsentiert und zwischen Wissenschaft und gewöhnlichen menschlichen
Verrichtungen einen tiefen Graben gezogen hatten, konnten wir sagen:
Wir haben es geschafft! Wir haben eine große Anzahl von Menschen davon
überzeugt, dass das, was sie einst für faszinierend, unterhaltsam, ja
für die natürlichste Sache der Welt hielten, überhaupt nichts mit
ihrem Leben zu tun hat."
Natalie Angiers Buch "möchte dem Bestreben, den Stein ins Rollen zu
bringen und die ganze kinetische Schönheit der Naturwissenschaft zu
entfesseln, eine schwache Schulter leihen." Und das ist ihr
großartig gelungen. Voller Witz, anschaulich, illustrativ, lebendig und
einprägsam beteiligt sie den Leser an einem Diskurs, der trotz seiner
Plakativität ein erstaunlich hohes Niveau offenbart. Beginnend mit einer
Einführung wissenschaftlichen Denkens spannt sie einen großen Bogen über
unsere grundlegenden naturwissenschaftlichen Bereiche wie Mathematik,
Physik, Chemie, Evolutions- und Molekularbiologie, Geologie, um
letztendlich mittels der Astronomie in die beinahe unergründlichen
Weiten unseres Universums einzutauchen.
Das tut sie mit so viel Esprit, Charme und Anschaulichkeit, dass sich
die eigenen, auf ihrem Sofa sesshaft gewordenen Synapsen sich wieder in
ihre nähere Umgebung ergießen und im Handumdrehen neue Freunde und
Synapsen zu gewinnen, um die anschaulichen Worte der Autorin zu
gebrauchen. Durch Natalie Angiers Buch wird die zuweilen ziemlich
verhärtete eigene neuronale Matrix angeregt und bekommt einen Schubs,
doch wieder einmal auf Reisen zu gehen.
Angier erklärt,
dass die Maßeinheit Fuß auf den römischen Kaiser
Karl den Großen zurückgeht, ein Yard exakt der Entfernung
von der Nase bis zur Spitze des Mittelfingers des ausgestreckten Arms
des britischen Monarchen König Heinrich I. entspricht und 10 hoch 100
ein Googol sind (nicht zu verwechseln mit "Google", der bekannten
Suchmaschine oder Gogol, dem russischen Romancier des 19. Jahrhunderts)
(Kapitel Kalibrierung),
dass die Gravitation zwar unsere Füße am Boden hält und dafür sorgt,
dass unser Planet um die Sonne kreist, aber letztendlich die
Feindseligkeit unserer Elektronen der Faktor ist, der diese Reise
lohnenswert macht und Elektronenschalen große Ähnlichkeit mit Schränken
haben: Sie sind am glücklichsten, wenn sie gefüllt sind (Kapitel Physik),
dass Chemie Leben in die Bude bringt und Kohlenstoff das Klebeband des
Lebens ist (Kapitel Chemie),
dass die so genannte Gänsehaut ein Relikt unserer bepelzten
Vergangenheit ist (Kapitel Evolutionsbiologie),
warum man nicht mit den Füßen denken kann, obwohl die DNA in unseren
Zehenzellen der in unseren Kopfzellen gleicht und dass unsere Zellen
Klatschbasen, Zankteufel, Lauscher und Schafe sind, die ständig auf ihre
Nachbarn achten und diese tyrannisieren (Molekularbiologie),
warum trotz 5500 Grad Celsius das Innere unseres Planeten einen festen
Eisenkern besitzt, obwohl dieses Metall unter normalen Umständen
schmelzen würde und sich in fast 4 Milliarden Jahren nur um 150 Grad
abgekühlt hat (Kapitel Geologie),
dass unsere Sonne pro Sekunde 700 Millionen Tonnen Wasserstoff zu Helium
verschmilzt und jede Zelle unseres Körpers im Inneren massiver Sterne
gekocht wurde, gegen die unsere "hauseigene" Sonne nur ein unscheinbarer
Zwerg ist (Kapitel Astronomie).
Letztendlich sollte es dann auch nicht beunruhigen, dass "sich der
wilde Tanz der Erde allmählich verlangsamt, vor allem infolge der
'Gezeitenbremse', die unser Trabant, der Mond, anzieht. Anfangs
absolvierte die Erde ihre Drehung in gerade einmal zehn Stunden, und
noch vor 620 Millionen Jahren war ein Tag in 21,9 Stunden erledigt,
eine Albtraumvorstellung für alle, die jetzt schon über Termine und
Schlafmangel jammern."
Fazit:
Wissen über unsere Naturwissenschaften, dargebracht mittels prägnanter
Erklärungen auch der schwierigsten Begriffe, farbiger Vergleiche und
durchzogen mit feinem Humor, dabei jedoch immer fundiert und sachkundig,
das zeichnet Natalie Angiers Buch aus. Sie stößt das Tor zu den
Naturwissenschaften weit auf und beschreitet einen Weg der
Populärwissenschaft, der beispielgebend ist.
(Heike Geilen; 03/2010)
Natalie Angier: "Naturwissenschaft. Was
man wissen muss, um die Welt zu verstehen"
(Originaltitel "The Canon. A Whirligig Tour of the Beautiful Vasics of
Science")
Übersetzt
von Hainer Kober.
C. Bertelsmann, 2010. 382 Seiten.
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Natalie Angier, geboren 1958, arbeitet als Wissenschaftsjournalistin für die "New York Times", wurde mehrfach ausgezeichnet (z. B. mit dem "Pulitzerpreis").