Michela Murgia: "Accabadora"
"Fillus de anima,
Kinder des Herzens.
So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut
einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten
Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai."
Anima. Das ist ein Wort, das ,wie jedes andere Wort in jeder anderen
Sprache auf der Welt, viele verschiedene Bedeutungen hat. Anima - die
Seele. Der Hauch, der diesem Wort inne liegt. Anima ist aber auch das
Innere, im technischen Sinn der Kern, im figurativen Verständnis die
Person oder, musisch verstanden, der Stimmstock eines
Streichinstrumentes.
Dabei mag man im Lesen dieser wenigen Sinnstreuungen schon den Geist des
Wortes in zarter Erfassung in sich aufgenommen haben: Hier geht es um
ein Kind, in Michela Murgias Roman heißt es Maria Listru, das gewünscht
und in Freuden von einer Frau aufgenommen wird, die selbst keine Kinder
haben kann, aus welchen Gründen auch immer. Der Ausdruck "fillus de
anima" bezaubert uns mit seiner Güte, es handelt sich um eine schöne,
wärmende Metapher. Doch leider sieht die Realität immer auch ein wenig
anders aus.
Anna Teresa Listru, die biologische Mutter Marias, konnte kein weiteres
Maul mehr füttern. Bonaria Urrai galt als eine der reichsten Witwen des
Dorfes. Dies war also auch eine wohlüberlegte Entscheidung. Darauf
vorbereitet wurde Maria nicht. Sie zog von einem auf den anderen Tag in
ein neues Heim, mit einer neuen Mutter.
Den Handel beschlossen die alte Bonaria und Anna Teresa unter einem
Zitronenbaum, während die sechsjährige Maria eine Schlammtorte buk. Der
Zitronenbaum stellt dabei ein wunderschönes ambivalentes Symbol dar,
genau so, wie die Begrifflichkeit "fillus de anima" nicht anders als
dialektisch, von beiden Seiten und immer alles zugleich, gedacht werden
kann.
Wenn man sich dem Symbol der Zitrone ein wenig näher zuwendet, wird man
auch in diesem einer sehr heterogenen Bedeutungsschicht gewahr.
Nachgeschlagen im "Metzler Lexikon literarischer Symbole", das die
vorgenannten in ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutungsveränderung
nachzeichnet und in verschiedene Texte einordnet, kann man lesen, dass
dies sowohl ein Symbol der Trauer, des Lebens und der Reinheit ist. Aus
einem spätmittelalterlichen, religiösen Kontext ist die
Zitrone ein Mariensymbol, das die mütterliche Stärke betont.
Im Judentum ist die Zitrone das Symbol des menschlichen
Herzens. In der chinesischen Kultur steht die Zitrone für den Tod. Auch
auf christlichen Gemälden wird die Zitrone zusammen mit weißer Kleidung
als Andeutung für den Tod durch Sünde
verbildlicht.
Die Eingangsszene des Romans allein bietet also schon eine unheimliche
Bedeutungstiefe, die für die verschiedenen menschlichen Beziehungen
stehen, die Maria Listru ihr Leben über haben wird.
"Sie war so schön, wie es manchmal nur ungenießbare Dinge sein
können."
Das sagt die Erzählerstimme, die uns - oft im Fokus auf Maria - durch
ihre Kindheit und frühes Erwachsenenalter führt - im Hinblick auf die
Schlammtorte, welche die Sechsjährige zusammenbastelt. Aber es passt
auch sehr schön zur Geschichte, die den Leser im Folgenden erwarten
wird.
Maria lebt bei einer etwas steifen, aber gutmütigen Ersatzmutter, für
nützliche Arbeiten wird sie von der immer auf den Zweck und ihren
eigenen Nutzen bedachten Mutter in den Haushalt geholt. Liebe ist etwas,
das niemals für sie in Hautkontakt ausgedrückt wird. So aber wächst
Maria zu einer sehr starken und reflektierten Person heran, die klare
Vorstellungen für ihr eigenes Leben bereit hält. Die freundschaftliche
Beziehung zu Andría, dem Sohn des Weinbergbesitzers Bastíu, ist eine der
"zwischenmenschlicheren" Beziehungen Marias, die jedoch durch das große
drückende Geheimnis um Bonaria Urrai vor große Probleme gestellt werden
wird.
Michela Murgia schreibt aus einer rückblickenden Perspektive und mit
mütterlichem Duktus einen Entwicklungsroman. Der Leser erlebt das
Erwachsenwerden von Maria Listru und die Beschwerlichkeiten dessen mit,
was Leben für jeden bedeutet.
Dabei schweben die Beschreibungen des oft Geschilderten, Dialoge und
Szenen bilden den geringeren Anteil des Romans. Der Tod und das
Älterwerden, die Entwicklung sind bedeutende Themen in diesem ersten
Roman der studierten Theologin Michela Murgia, die im zweiten Teil des
Buches fast ein wenig ins Klischeehafte ausrutscht, was man aber der
wohlgewobenen Geschichte verzeihen mag.
Der Titel "Accabadora" spielt auf das dunkle Geheimnis der Bonaria Urrai
an, das sich innerhalb der erzählerischen Darstellung auf eine schöne
Weise mit sardischen Gepflogenheiten, mit dem religiösen und kulturellen
Charakter einer vielleicht etwas archaisch
wirkenden Dorfgemeinschaft verbindet, die durch die Erzählweise sehr
glaubhaft und getragen, sehr stimmig geschildert wird.
Dieser erste Roman der 1972 geborgenen Autorin zeigt ihr Interesse, die
Kultur ihrer eigenen Herkunft zu schildern, anhand einer berührenden
Geschichte um das Schicksal von Maria Listru glaubhaft zu machen und
nachwirkend in der Erinnerung des Lesers zu verankern.
Hier darf man sehr gespannt auf weitere Veröffentlichungen Michela
Murgias sein.
(Christin Zenker; 03/2010)
Michela Murgia: "Accabadora"
(Originaltitel "Accabadora")
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini.
Gebundene Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, 2010. 176 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 176 Seiten.
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Ein weiteres Buch der
Autorin:
"Elf Wege über eine Insel. Sardische Notizen"
Elf Wege zeigt uns Michela Murgia auf ihrer Insel, zehn plus einen, weil
runde Zahlen nur für Dinge taugen, die endgültig verstanden werden
können. Und das ist in Sardinien nicht der Fall.
Auf Sardinien gibt es Höhlen, in denen Hexen wohnen, es gibt Tote durch
den Biss von Vampirfrauen und geheime Wasser, in denen der sich
spiegelnde Mond die Zukunft und ihre Täuschungen enthüllt ...
Michela Murgia zeigt uns ihr Sardinien, das weit entfernt liegt von der
Insel der Postkarten. Es ist ein fremdes, stolzes Land, mit dem uns
Murgia vertraut macht, indem sie jeweils eine Gegend mit einem Stichwort
verbindet: das Selbstbewusstsein der Sarden, die anders als alle sind -
wie der uomo balente, ein Mann von ganz eigener Verwegenheit. Die
Essgewohnheiten (man isst gemeinsam. Oder gar nicht). Die Grenzen der
begehbaren Wege, die einerseits von den Küsten und andererseits von den
Blei- und Zinkminen gebildet werden, in denen früher ein Großteil der
sardischen Männer zur Arbeit verschwand. Nicht zuletzt reisen wir durch
ein Sardinien der Klänge und der Kunst, wobei der Autorin ein großer
Bogen gelingt aus der langen kulturellen Tradition in eine sardische
Gegenwart mit aufregender Mode, einem bekannten Jazz- und einem
erfolgreichen Literaturfestival - und jungen Autoren, die in der Welt
von sich reden machen. (Verlag Klaus Wagenbach)
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Noch ein Buchtipp:
Peter Höh: "Sardinien"
Sardinien ist die zweitgrößte Insel im Mittelmeer und beeindruckt durch
ihre Vielfalt: wilde Gebirgs- und Karstlandschaften, urige Bergdörfer,
Wildpferde, Pfingstrosen, Schluchten, Höhlen und natürlich die
Steilküsten mit herrlichen Badebuchten. Der Reiseführer enthält alle
wichtigen Informationen für einen gelungenen Sardinienaufenthalt: alle
Badeorte mit ihren detaillierten Strandbeschreibungen und Tipps für den
Wassersport, spannende Touren durch das wilde Inselinnere, ausgesuchte
Unterkünfte vom Edelhotel bis zum Urlaub auf dem Bauernhof,
empfehlenswerte Restaurants und Trattorien mit Kurzbeschreibung,
umfangreiche Tipps für Camper und Wohnmobilisten, informative
Hintergrundinformation zu Sardinien und den Sarden, Geschichte und
Kultur, viele Hinweise zu spannenden Exkursionen mit einheimischen
Führern in die Bergwelt der Insel,
in unerschlossene Höhlen, alte Bergwerke u.A., genaue Informationen zu
den vielen archäologischen Stätten, zahlreiche Tipps für
Sportbegeisterte: Wandern,
Radwandern, Reiten, Klettern, Tauchen,
Surfen, Segeln, Kanu und Seekajak uvm., extra Karte für Weinkellereien
und Olivenölproduzenten.
(Reise
Know-How Verlag Rump)
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