Anna Mitgutsch: "Wenn du wiederkommst"
Gefühlsanästhesie oder Das
Fenster zur Vergangenheit
"Niemand wird mir die Erinnerung nehmen können an alles, was uns,
unsichtbar für die anderen, zu einem Paar gemacht hat, vielleicht zu
keinem Ehepaar nach dem bürgerlichen Gesetzbuch, zu keinem Liebespaar
im Sinn trivialer Mythen, dafür war zuviel Trennendes geschehen, aber
auch nicht zu einem bloßen Freundespaar, wir waren Mann und Frau nach
unserer eigenen Definition." Mit diesen teils verbitterten, teils
verzweifelten Worten kämpft die Protagonistin in Anna Mitgutschs Roman
um die Anerkennung ihrer 35-jährigen Liebe zu ihrem geschiedenen Ehemann
Jerome, dem sie sich immer noch tief verbunden fühlt. Nach fünfzehn
Jahren der Trennung, in denen sich beide allerdings nie ganz aus den
Augen verloren, sind sie wieder zueinander zurückgekehrt, dieses Mal "nicht
mehr auf der Flucht und auf der Suche, aneinander vorbei und
voneinander weg." Doch der zarte Neuanfang wird abrupt beendet,
denn Jerome stirbt plötzlich. Die Ich-Erzählerin steht auf einmal mit
einem Wust an ungeklärten Fragen vor einer großen emotionalen Leere.
Trennung und Tod gehören unbestritten zu den schwierigsten seelischen
Erfahrungen eines Menschen. Am Anfang stehen Schock und Verleugnung.
Leere und Schmerz nehmen von der Seele Besitz, beherrschen das ganze
Wahrnehmen und Denken. Später brechen schmerzhafte Gefühle auf, Rat- und
Hoffnungslosigkeit, Angst vor der Einsamkeit, vielleicht auch Schuld.
Der Körper antwortet mit Unruhe oder Erschöpfung. Man kann sich nicht
mehr konzentrieren, isst und schläft zu wenig, zieht sich von der
Außenwelt zurück oder stürzt sich in verschiedenste Aufgaben. Erst
langsam findet der Betroffene wieder zu sich selbst, orientiert sich neu
in seinem Ein-Personenstück mit dem Namen "Anatomie der Trauer".
Genau diese Phasen durchlebt auch Anna Mitgutschs Protagonistin. Wie ans
Ufer geschwemmtes Treibgut kommt sie sich vor, "farblos, morsch,
ausgelaugt und unfähig, das Leben wieder aufzunehmen." Familie und
Freunde ihres jüdischen Mannes sind ihr in ihrem Leid keine Hilfe, im
Gegenteil: sie erfährt keine Akzeptanz. Teilweise wird ihr sogar
Verachtung entgegengebracht, da sie diejenige war, die vor fünfzehn
Jahren das gemeinsame Haus in Boston, ihren Mann und ihre Tochter Ilana
verließ. Doch: "Wir hatten nur ein Leben, es war zu kurz für alles,
was wir von ihm erwarteten. Also mußten wir auseinanderrücken, damit
das, was wir brauchten, darin Platz fand: seine Frauen und meine
Bücher, sein Beruf, der Seßhaftigkeit verlangte, und meiner, der
Abwesenheiten mit sich brachte, seine Sehnsucht nach dem vollkommenen
Glück und meine Rastlosigkeit."
Gibt es den letzten Augenblick vor dem und einen Zugang zum Tod?
Kann man sich ihm nähern? Wie nimmt man ihn wahr? "Wie folgt man
einem geliebten Menschen in den Tod, ohne das Leben zu verlieren? Wie
holt man ihn zu sich zurück?" Fragen über Fragen türmen sich auf.
Erinnerungen an scheinbare Nebensächlichkeiten werden auf einmal
kostbar. Aber auch die Furcht, sie zu verlieren, ist allgegenwärtig. "Ich
sitze auf der Bank mit meiner von der Zukunft abgeschnittenen
Vergangenheit, und das Leben erscheint mir wie ein unergründliches,
mit der Fremdheit des Todes versiegeltes Geheimnis, vor dem mir
schaudert."
Doch letztendlich findet die Protagonistin aus ihrem emotionalen
Ausnahmezustand heraus und wieder ins Leben
zurück.
Anna Mitgutsch hat einen ergreifenden, wortgewaltigen und zutiefst
emotionalen Roman geschrieben, dessen Töne "wie Wellen aus Licht und
Farbe" den Leser durch die Seiten tragen. Aus vielen
Erinnerungssplittern, Bildern und vergangenen Augenblicken versucht sie,
ein abrupt zu Ende gegangenes Leben zu rekonstruieren, Fragen zu
beantworten und "Verfehlungen" zu analysieren. Mit tiefen menschlichen
Innensichten voller suggestiver Sinnlichkeit, atmosphärisch dichten
Örtlichkeitsbeschreibungen und dem unvergleichlichen, ruhigen,
rhythmischen Fluss ihrer Sprache, der mitunter zu einem melancholischen
Parlando auswächst, ist ihr ein wunderbarer Roman gelungen. Auf
verschlungenen, immer wieder unterbrochenen Pfaden analysiert Anna
Mitgutsch das Leben ihrer Protagonistin an der Seite von Jerome.
Letztendlich geht es um die Unvollkommenheit des Menschen: im Leben wie
in der Liebe, jedoch ohne zur Abrechnung zwischen Mann und Frau zu
geraten. "Das Leben, das wir uns am Ende vorstellten, als keine Zeit
mehr blieb, war nur ein kurzer Blick auf ein Versprechen, wie es von
Anfang an hätte sein können."
Fazit:
Auch wenn Anna Mitgutschs Roman "Wenn du wiederkommst" den Tod eines
geliebten Menschen zum Inhalt hat, so ist er doch ein hochpoetisches und
komplexes Plädoyer für das Leben. Trauer, Tod, Erinnerung und Sehnsucht,
Liebe und Schuld, Resignation und Aufbruch sowie Wahrung der eigenen
Identität sind die Themen, die die Autorin auf der einen Seite voller
Leichtigkeit, auf der anderen mit großem Tiefgang verarbeitet. Und wie
nebenbei gibt sie einen kleinen Einblick in jüdisches Emigrantenleben in
Boston, ergänzt durch ein kleines Glossar jüdischer Begriffe am Ende des
Buches.
"Ich weiß, es war nur unsere kleine, für andere bedeutungslose Welt,
die der Tod ausgelöscht hat, aber für uns war sie groß und umfassend
wie das Universum" (aus "Wenn du wiederkommst").
(Heike Geilen; 03/2010)
Anna
Mitgutsch: "Wenn du wiederkommst"
Luchterhand, 2010. 272 Seiten.
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