John Gray: "Von Menschen und anderen Tieren"
Abschied vom Humanismus
Größenwahn und
Wehleidigkeit
In der Übersetzung aus dem Englischen von Alain Kleinschmied liegt hier
ein Buch vor über den "Abschied vom Humanismus" (Untertitel), was schon
erschreckend genug klingt. Damit setzt aber Gray - "weltweit einer
der wichtigsten Ideologiekritiker unserer Zeit"“ (Klappentext)
sein Denken und Argumentieren offensichtlich konsequent fort, wenn man
an sein vorhergehendes Buch "Politik der Apokalypse" denkt, welches sich
damit beschäftigte, "Wie Religion die Welt in die Krise stürzt"
(Untertitel). Mit dem vorliegenden Buch verwirft Gray den Anspruch des
Menschen auf eine Sonderstellung in der Natur und diskreditiert den
Humanismus als die Ersatzreligion der Moderne. Hier muss natürlich von
Anfang an klar gestellt werden, dass der Begriff "Humanismus"
offensichtlich eine Bedeutungsverengung erfahren hat. Ursprünglich
verstand man laut Duden
unter Humanismus ein auf das Bildungsideal der Antike gegründetes Denken
und Handeln im Bewusstsein der Würde des Menschen sowie ein Streben nach
echter Menschlichkeit. Gray argumentiert schon gar nicht mehr in solch
pathetischen Regionen wie Würde und Menschlichkeit, er negiert quasi auf
der pragmatischen Ebene schlichtweg, dass die Entwicklung der Welt durch
das Eingreifen des Menschen eine positive Richtung genommen habe. Gray
meint mit "Humanismus" eigentlich Anthropozentrismus. Mit Darwin
meint Gray, wir Menschen seien nur Tiere, und der freie Wille sei von
den Christen erfunden. Gray hält es für einen Irrtum, dass mit der
Anhäufung des Wissens auch automatisch eine Weiterentwicklung der
Spezies Mensch vonstatten geht. Gray meint eben, Ziel und Sinn des
Lebens sei nicht, die Welt umzugestalten, sondern "sie richtig zu
sehen". Und so lautet die Grundthese Grays: "Wir Menschen
können die Welt nicht retten, doch das ist kein Grund zu verzweifeln.
Sie muss nicht gerettet werden. In einer von ihnen selbst geschaffenen
Welt werden Menschen zum Glück niemals leben." Dementsprechend
könnten wir uns beruhigt auf die Position Platons
zurückziehen, für den die Kontemplation die höchste Form menschlichen
Tuns war.
Der homo sapiens hat sich als homo rapiens entpuppt -
Gray kommt zu der lapidaren Erkenntnis: "Wahre Freunde der Erde
träumen nicht davon, ihre weisen Verwalter zu werden, sondern von
einer Zeit, in der es auf die Menschen nicht mehr ankommen wird."
Überdies sei, nach Gray, der menschliche Geist nicht auf Wahrheit,
sondern auf "Evolutionserfolg" gerichtet. Und fast schon zynisch
muss die Aussage klingen: "Die Wissenschaft taugt nicht dazu, die
Menschheit vernünftiger zu machen." Wenn man ergänzt, dass Gray
auch von der Moral nicht viel hält, dann scheint es um die Vernunft und
die Erkenntnis der Wahrheit als Kernsymptome ursprünglicher
Humanismuspraxis äußerst dubios bestellt. Für Gray sind Religion und
Wissenschaftsgläubigkeit gleichermaßen irrational, und er fordert, dass
wir unser "Geplapper von Gott, Unsterblichkeit und
Menschheitsfortschritt" einstellen und uns dann überlegen, welchen
Sinn wir in unserem Leben noch erkennen können. Interessant ist, dass
wir damit bei Schopenhauer
landen, der die Abkehr von den lebenspraktischen Interessen und
Bestrebungen in der Kunst verwirklicht sieht. Nun muss man aber wohl
kritisch anmerken, dass durch die "von unserer Individualität
abgerückte Kontemplation" zwar der Verzicht auf den freien Willen
gemeint sein kann, sich der Mensch aber dennoch von den anderen Tieren
unterscheidet, indem er von sich weiß - ob das nun Gray in den Kram
passt oder nicht.
Allerdings beruft sich Gray auf die heutige Kognitionswissenschaft und
meint fast ein wenig hämisch, dass unser subjektives Identitätserleben
eine Illusion sei. Schon nach David Hume sind wir nur ein Bündel
verschiedener Perzeptionen. Und so ist nach Gray das Selbst, als das wir
uns erleben, ein Trugbild - aber er tröstet uns damit, dass es unsere
Natur sei, in Illusionen befangen zu sein. Unsere Wahrheitssuche könne
nur darin bestehen herauszufinden, auf welche Illusionen wir verzichten
könnten. Unser Fortschrittsglaube hat nämlich die Moral ausgehebelt und
lediglich unsere offensichtlich natürliche Neigung und Fähigkeit zum
Töten perfektioniert. Gray artikuliert die zum Zynismus gesteigerte
Ironie der Geschichte: "Je mehr die Hoffnung auf eine bessere Welt
uns in Bann schlägt, desto mehr wird gemordet."
Es gibt keinen zeitlosen Moralbegriff und keine zeitüberdauernde
Gerechtigkeit. Oder müsste man - erschrocken - nicht zumindest
einschränken: bisher gab es dies nicht, sollte es aber künftig geben?!
Nun, Gray bleibt da sozusagen ein fatalistischer Pragmatiker. Moral
bedeutet für ihn lediglich eine Reizschwelle für Eigennutz und
Vergnügen. Alles moralische Verhalten ist nur tierhaft: wir suchen
Nahrung und versuchen, unseren Feinden zu entgehen. Allerdings ist unser
"abendländisches" Denken fixiert auf die Kluft zwischen dem, was ist,
und dem, was sein sollte. Dazu sagt uns Gray ganz trocken: "Wildlebende
Tiere wissen, wie sie zu leben haben, und müssen nicht nachdenken oder
sich entscheiden." Der Mensch ist frei, der sich nicht entscheiden
muss. Radikalisiert heißt das zweierlei: es gibt kein autonomes
Bewusstsein, und es gibt keine Erlösung. Cioran
brachte das einmal auf die überwältigende Formel: "Die Gewissheit,
dass es kein Heil gibt, ist das Heil." Und das bestünde
beispielsweise darin, dass wir eine Welt ohne militante, monotheistische
religiöse und politische Glaubenssysteme hätten.
Gray versteigt sich letztendlich zu der Prognose, dass der Mensch
aussterben wird, andere Spezies werden weiterleben oder sich neu
entwickeln. Und dann der Satz, welcher jedem vernunftbegabten Gutmenschen
den Horror in die Gene treiben muss: "Die Erde wird die Menschheit
vergessen." Aber das Leben wird weitergehen. An diese Vorstellung
mögen wir uns freilich nicht gewöhnen. Die einfache Botschaft des
vorliegenden Buches kann allerdings nur lauten: wenn wir Menschen
möglichst lange überleben wollen als Spezies, dürfen wir uns nicht mehr
so wichtig nehmen. Wir müssen uns zurücknehmen. Und wieder einsortieren
in den Ablauf der Natur.
Das heutige Geschwafel von neuen Technologien täuscht uns nur über all
unsere Schwächen hinweg: wir wissen weder, was morgen kommt, noch können
wir das nächste Erdbeben verhindern. Was wir Naturkatastrophe nennen,
ist für uns Menschen bedrohlich, im Ablauf der Erdgeschichte
aber eben etwas ganz Natürliches. Wir Menschen haben gegenüber den
anderen Tieren den Nachteil, dass wir uns Alternativen vorstellen
können. Allerdings können wir diese Alternativen nicht kontrollieren -
und das ist unser eigentlicher Kummer.
(KS; 02/2010)
John Gray: "Von Menschen und anderen
Tieren. Abschied vom Humanismus"
(Originaltitel "Straw Dogs, Thoughts on Humans and Other Animals")
Deutsch von Alain Kleinschmied.
Klett-Cotta, 2010. 246 Seiten.
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John Gray, geboren 1948, ist
Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of
Economics.
Weitere Bücher des Autors:
"Raubtier Mensch. Die Illusion des Fortschritts"
Pointiert und mitreißend erzählt John Gray die Geschichte von
menschlichen Idealen - und verwirft sie als überflüssige
Wahnvorstellung: Der Mensch hält sich für besser, als er ist. Nicht Homo
sapiens, als der sich der Mensch gern selbst sieht, ist er geworden,
sondern Homo rapiens - Raubtier Mensch - geblieben. Die Moderne erzählt
sich selbst ihre Geschichte immer wieder: Seit die Religion überwunden
ist, glaubt die angeblich aufgeklärte, humane, liberale Menschheit an
den Fortschritt. Sie glaubt an Veränderung, an ihre Vervollkommnung und
ihre Güte. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft weitete sich der
Blick - eine Verbesserung schien jederzeit möglich. Das wachsende Wissen
ermöglichte es dem Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen, so das Credo des liberalen Humanismus. Ihn und alle
Fortschrittsphantasien unterzieht John Gray in seiner Tour d'Horizon
einer grandiosen wie vernichtenden Kritik. (Klett-Cotta)
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"Wir werden sein wie Gott.
Die Wissenschaft und die bizarre Suche nach Unsterblichkeit"
Die unstillbare Sehnsucht der Menschen nach Unsterblichkeit. Warum
können wir den Mythos von der menschlichen Unsterblichkeit nicht
aufgeben? Immer wieder lassen wir uns auf die Versprechen der
Ideologien, der Religionen, der Medizin und der Naturwissenschaften ein.
Aber die Maxime dieses
Mythos ist gefährlich, verheißt sie doch ihren Anhängern: Wir
werden sein wie
Gott.
Der bedeutende britische Philosoph John Gray betrachtet den modernen
Menschen als zaudernd und zögernd. Ihm gelingt es nicht, die
Zufälligkeit seiner eigenen Spezies anzunehmen - mit fatalen Folgen. In
England wird Ende des 19. Jahrhunderts in esoterischer Manier versucht,
Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen. Einen aggressiven Weg schlagen
Naturwissenschaftler und Techniker der jungen Sowjetunion nach 1917 ein.
Sie versetzen sich in die Rolle göttlicher Designer und erschaffen den
"Neuen Menschen", um das Paradies auf Erden zu errichten. Welt und
Mensch sollen radikal modernisiert und wider besseres Wissen unsterblich
werden. Eine Fata Morgana, die noch bis heute in der Medizin, der
Genetik und in den politischen Ideologien weiterwirkt und für viele
unfassbare Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist. Der
derzeit bedeutendste Philosoph Englands und einer der konsequentesten
Kritiker von Ideologien in einer Auseinandersetzung mit
Unsterblichkeitsmythen und mit der Rolle des Menschen in der Natur.
(Klett-Cotta)
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"Politik der Apokalypse.
Wie Religion die Welt in die Krise stürzt"
Die Politik des 20. Jahrhunderts ist ein Kapitel der
Religionsgeschichte. Mit dieser Einsicht leitet John Gray seinen Abriss
moderner politischer Ideen von der Antike bis in die Gegenwart ein.
Furios und in verblüffender Evidenz stellt Gray dar, wie sehr sich
islamische oder christliche Fundamentalisten und neoliberale
Turbokapitalisten, die Jakobiner im Frankreich des späten 18.
Jahrhunderts, die Nationalsozialisten und die US-amerikanische
Bush-Regierung ähneln. Die von Utopien
geschundene Welt lässt sich im 21. Jahrhundert nur noch durch eine
globale Realpolitik vor dem Untergang bewahren. (Klett-Cotta)
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