Werner Siefer: "Wir und was uns zu Menschen macht"


Egoismus oder Kooperation

Nicht das Ich ist wichtig, sondern das Wir. Nicht Intelligenz und Vernunft bestimmen das Verhalten des homo sapiens, sondern die Fähigkeit, die komplexen Beziehungen im Kollektiv zu meistern. Der Mensch ist also von Anfang an eigentlich kein Egoist, sondern jemand, der sich dem Leben in der Sippe anpasst. Und dennoch ist der Mensch sowohl ein zur Gewalt bereites Raubtier als auch jemand, der sich um Andere kümmert bzw. erwartet, dass man sich um ihn kümmert. Siefer formuliert schon ziemlich zu Beginn seines Buches die Ansicht der auf Effektivität ausgerichteten Evolutionsbiologen über die Menschheit: "Am Ende unterscheidet sich ihr Verhalten auf diesem blauen Planeten nicht von dem jener berüchtigten Bakterienkolonie in einer Nährlösung: Jede Zelle vermehrt sich immer schneller, konsumiert immer mehr und führt auf diese Weise ihr Ende nur umso rascher herbei. Die Population bricht zusammen, weil ihr die Nährstoffe ausgehen und sie an ihrem eigenen Abfall erstickt." Siefer selbst allerdings hält dagegen, dass wir Menschen uns letztendlich doch immer wieder zu einer "kommunizierenden Einheit" zusammenfinden und uns nach bestimmten "Regeln der Gegenseitigkeit" verhalten. Und diese Ansicht möchte er nicht als naiv-positives Denken stehenlassen, sondern wissenschaftlich aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen belegen.

Seit Jahrhunderten disputieren die Philosophen (zu denen sich später auch die Psychologen und Soziologen zählen lassen können), ob der Mensch an sich gut sei oder böse oder beides bzw. ob die Zivilisation die Wende zum Positiven einleitete oder nicht. Spätestens seit Darwin kursierte ja auch die Fragestellung, ob es ein aus der Natur ableitbares Recht des Stärkeren gibt bzw. ob unser aller jeweiliges Überleben besser mit den Anderen oder gegen sie gelingt bzw. gerechtfertigt erscheint. Und dann schwelt da noch die Frage, ob unser Verhalten mehr der Moral geschuldet sei oder den Genen. Ginge es rein biologisch tatsächlich nur um die Durchsetzung und Verbreitung der eigenen Gene, wäre Altruismus eine Form des raffinierten Egoismus - Biologie im Sinne des eigenen Fortbestands wäre demnach eine Art evolutionärer Utilitarismus. Wobei sich allerdings immer wieder die Frage stellt, inwiefern sich Untersuchungsergebnisse aus dem Tierreich schlichterdings auf uns Menschen übertragen lassen. Jedenfalls bleibt uns keine Alternative zur global-sozialen Kooperation, wollen wir das menschliche Überleben auf unserem Planeten garantieren. Und dazu braucht es noch nicht einmal Moral, lediglich praktische Vernunft - sollte man meinen. Da mag es interessant sein zu wissen, dass Schimpanse und Bonobo unsere (nämlich des homo sapiens) "älteren Brüder" sind, wie Herder es einmal ausdrückte - und Siefer meint, der Gorilla sei unser Cousin. Was uns Menschen nun tatsächlich von allen anderen Lebensformen unterscheidet, ist unsere kognitive soziale Kultur.

Dem Menschen scheint eine "vorbehaltlose Bereitschaft zur Verständigung" eigen. Wie keine andere Existenzform kann der Mensch dabei Absichten und Ziele, Motive und Strategien definieren. Und wir Menschen können uns in die Perspektive eines Anderen hinein versetzen, was uns dazu qualifiziert zu helfen. Menschen können bewusst kooperieren, auch wenn der Nutzen gering ist. Jedenfalls entwickelten sich aus der Wir-Intentionalität im Laufe der Jahrhunderte die menschliche Zivilisation und die Sprache. Der Mensch entwickelt sozusagen eine Werkzeugkultur und gibt dieses Wissen an folgende Generationen weiter. Überdies werden wir zu Menschen, indem wir lernen - und indem wir lernen, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, zu variieren und die Ergebnisse zu bewerten. Entsprechend unternimmt es Siefer auch, Descartes zu modifizieren, indem er nun sagt: "Wir sind, also denke ich." Individuen definieren sich aus dem Kollektiv, ein Ich ist ohne das Wir nicht denkbar bzw. eigentlich gar nicht existent. Denn Siefer sagt: "Alleinsein ist für den Menschen nicht vorgesehen. Er will, er muss mit anderen zusammen sein, um sich glücklich zu fühlen." Und: Einsamkeit bedroht die Gesundheit.

Der Mensch möchte also "in Resonanz" leben. Dabei spielt Vertrauen eine wesentliche Rolle, wenn Interaktionen funktionieren sollen. Darüberhinaus müssen wir quasi eine universelle Empathie trainieren. Siefer referiert beflissen Untersuchungsreihen und philosophische Traditionslinien, um seine Ansichten zu untermauern. Beteiligt sind ebenso Tierforscher wie Ökonomen, Neurobiologen und Historiker. Es hat sich herausgestellt, dass Öffentlichkeit und die zu erringende Reputation wesentlich zur Bereitschaft der Menschen zur Kooperation und Hilfeleistung beitragen. Siefer behauptet gar, der homo oeconomicus sei tot, es lebe dafür der homo reciprocans, welcher Andere fair behandeln möchte und freilich auch selbst fair behandelt werden will.

Und so gelangt Siefer eben zu dem Fazit, dass die Menschen auf Kooperation geprägt sind, wobei Emotionen die wichtigste Rolle spielen. Dabei hilft dann auch die mediale Globalisierung mit. Siefer sieht schließlich eine wesentliche Grundbedingung: "Nur wenn Erträge fair verteilt werden, werden die Menschen kooperativ bleiben." Übrigens haben Versuche in verschiedenen Ländern ergeben, dass der Anblick von Geld Menschen dazu verleitet, selbstbezogener zu handeln. Vielleicht sollte man daraus die Konsequenz ziehen, wieder zum Tauschhandel zurückzukehren. Dann könnte man auch im direkten sozialen Kontakt aushandeln, welche Leistung und welche Art Gegenleistung fair wären. Vielleicht soll uns ja doch Siefers letzter Satz optimistisch stimmen: "Nachhaltig glücklich macht nur das Wir." Nun bedarf es lediglich noch einer allgemein anerkannten Definition von Glück, oder?!

(KS; 10/2010)


Werner Siefer: "Wir und was uns zu Menschen macht"
Campus, 2010. 291 Seiten.
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Werner Siefer, Diplom-Biologe, ist Redakteur im Ressort Forschung und Technik des "Focus". Eines seiner Spezialgebiete ist die Hirnforschung.

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