Colum McCann: "Die große Welt"


Am 7. August 1974 ging der französische Hochseilartist und Künstler Philippe Petit über ein zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers in New York gespanntes Seil. Dieses historische Geschehen steht im Brennpunkt dieses Romans von Colum McCann. Es ist jedoch ein Brennpunkt, der außerhalb des eigentlichen Romanablaufs liegt.

Immer wieder bezieht der Autor seine Figuren in der einen oder anderen Form auf den Seiltänzer, doch er selbst bleibt im Text ohne Namen und wird von McCann lediglich in einer Nachbemerkung zum Buch namentlich erwähnt. Der Balanceakt von Petit dient McCann als Fokus und Metapher dafür, was mit seinen Romanfiguren und ihrem Leben geschieht. Denn ob sie oben bleiben, ob der Drahtseilakt ihres Lebens gelingt, oder ob sie abstürzen - das gilt cum grano salis für alle Romanfiguren.

Aus insgesamt zehn Perspektiven, kunstvoll und literarisch absolut gelungen mit seinen Protagonisten beschrieben, nimmt der Autor den Seiltänzer, die Welt und den Kosmos von New York, über die er balanciert, in den Blick.
Da ist vor allen Dingen und immer wieder auftauchend Corrigan, der aus Irland nach New York gekommen ist und zunächst aus der Sicht seines ihn besuchenden Bruders beschrieben wird. Ein frommer Mann ist Corrigan, aber "kein richtiger Priester, einer von den Typen, die irgendwo leben, weil sie denken, das sie das sollten."
Corrigans selbstgewählte Aufgabe sind die Frauen vom Straßenstrich in der Bronx. Um sie zu beschützen, lässt er sich verprügeln, ausnutzen, übel verspotten und beleidigen.

Da ist Claire Soderberg, auch sie wie Corrigan das ganze Buch hindurch auftauchend, eine Frau der Oberklasse, die ein leeres Luxusleben führt und einen Sohn in Vietnam verloren hat. Über eine Anzeige kommt sie in Kontakt mit anderen Müttern, deren Söhne ebenfalls gefallen sind. Als diese einfachen und farbigen Unterschichtfrauen bei Claire zum turnusmäßigen Besuch und tröstenden Gruppengespräch angesagt sind, ist ihr das sehr peinlich.

Ihr Mann, der Richter Soderberg, ist ein letztlich resignierter Vertreter der öffentlichen Ordnung, der kaum vom Kriegstod seines Sohnes berührt ist, sondern hauptsächlich versucht "Freiheit und Rücksichtslosigkeit" unter einen Hut zu bringen. Den Seiltänzer, der bei ihm vor einem Schnellgericht steht, will er zügig freisprechen, um eine für ihn gute Öffentlichkeitswirkung zu erreichen. Bei den Kleinkriminellen ist er nicht so zimperlich. Tillie und Jaslyn Henderson, zwei Schützlinge des Laienpriesters Corrigan, wissen davon ein Lied zu singen.

Da ist Adelita, die Corrigan liebt, der aber nur seinen Gott lieben darf. Sie beklagt die "unerträgliche Last der Komplikationen, die er mit sich herumträgt, seine Schuld, seine Freude."
Und vor allem Jaslyn Henderson, die einzige Hauptfigur, die aus der Zukunft berichtet. Sie blickt zurück auf das Leben von Mutter und Großmutter auf dem Strich, auf den selbstlosen und dabei so selbstzerstörerischen Wohltäter Corrigan und die egoistische Wohltäterin Claire.

Jede Figur hat eine eigenen Stimme, und zusammen geben sie ein Bild des Lebens in New York anno 1974. Drei Mal in dem Roman, vom Text typografisch unterschieden, beschreibt er den Seiltänzer, der selbst ohne Stimme bleibt. Und er benennt, durchaus auch als Hinweis auf seinen eigenen Text verstanden, den eigentlichen Grund des Drahtseilaktes: "Es war Schönheit. Das Gehen auf dem Seil war ein göttliches Vergnügen."
Der Seiltänzer als Gegenbild zu den desolaten und bedrückenden Niederungen der Existenz der Menschen unten, der Zustand vollkommenen Gleichgewichts.

Auch McCanns Schreibstil übt sich in dieser perfekten Balance, und es gelingt ihm hervorragend. Er formuliert Charaktere und Lebensstudien in einer wunderbaren Sprache. Er versucht, jenen Satz literarisch umzusetzen, den er einer Nebenfigur in den Mund legt, die sagt, " dass Dinge eben einfach passierten. Das war eine armselige Logik, aber im Grunde stimmte es. Dinge passierten."

Manchmal steht ihm dann allerdings seine Absicht im Weg, alles, was passiert, auch deuten zu wollen: "Alles hatte einen Zweck, einen Sinn, eine Bedeutung."
"Die große Welt" ist der über weite Strecken gelungene Versuch, in diesem Spagat, so wie der Seiltänzer, der Brennpunkt der Handlung, die Balance zu halten.

Doch die Wirklichkeit ist mehr als das, was passiert, und nicht alles, was passiert, hat einen Sinn oder eine Bedeutung. Vielleicht trägt McCann in seinem nächsten Roman dieser Weisheit etwas mehr Rechnung.

(Winfried Stanzick; 02/2010)


Colum McCann: "Die große Welt"
(Originaltitel "Let the Great World Spin")
Übersetzt von Dirk van Gunsteren.
Rowohlt, 2009. 540 Seiten.
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