Guillermo Martínez: "Gewaltige Hölle"

Erzählungen


Düster und von unterschwelliger Spannung getragen

Der preisgekrönte erste Roman des studierten Mathematikers Guillermo Martínez, "Die Pythagoras-Morde", wurde in Argentinien zum Massenverkaufsschlager und mit John Hurt und Elijah Wood verfilmt. Mehrere seiner Werke sind ins Deutsche übersetzt worden.
Mit "Gewaltige Hölle" liegt nun auch eine Kurzgeschichtensammlung des argentinischen Autors vor.

In den Geschichten geht es um die Aufarbeitung der jüngeren argentinischen Geschichte anhand von Einzelschicksalen oder auch, wie in der titelgebenden Erzählung, zu erahnenden Massenmorden. Diese Geschichte stellt eine dramatische Eröffnung dar: Was zunächst ganz nach einer fatalen Dreiecksgeschichte zwischen zwei Männern und einer schönen Frau aussieht, nimmt eine unverhoffte Wendung und wird zu einem Politikum, das mit kaum verhohlener Drohung an die Zeugen unter den Tisch gekehrt werden muss.

Immer liegt eine seltsam düstere Stimmung über den Erzählungen. In einer der Geschichten ist der Protagonist ein Mathematikprofessor, der sich über eine Studentin wundert, die seine Vorlesungen zwar regelmäßig besucht, jedoch keinerlei Interesse und auch kein Verständnis oder Begreifen zeigt. Als es nach einer ihrer gewohnheitsmäßig vermasselten Prüfungen zu einer gemeinsamen Busfahrt kommt, kulminiert ihre ganze Gleichgültigkeit in dem mehrfach wiederholten Satz: "Ich mag nichts."

Da gibt es den von einer Studentin begehrten und eines Tages vor einem Studentenmob geschützten Professor, der dann ihren Erwartungen nicht genügen kann, einen Studenten, für den das heimliche Zuschauen bei den sexuellen Aktivitäten seiner Nachbarin zur Obsession wird, einen kleinen Jungen, der lange nicht begreift, warum sein älterer Bruder alles darf - auch den Jüngeren drangsalieren und quälen -, und dann hinter ein dunkles Geheimnis kommt, und die eigenartige Begegnung einer Frau mit einem nachts heimlich pinkelnden Mann, die sich zwar für sein Geschlechtsteil interessiert, doch nicht für Sex mit ihm. In einer der Kurzgeschichten wird die Ermordung Trotzkis nacherzählt, in einer anderen wird das "I Ging" beim Versuch, das Schicksal vorauszuspüren, der Stochastik gegenübergestellt. Ein Zierfischzüchter gibt sein Privatleben völlig auf und belästigt auch seine Familie massiv mit seiner Passion. Und ein junger Mann aus einer offensichtlich vom Schicksal geschlagenen Familie begegnet einer vollkommen glücklichen Familie.

Diese und andere Geschichten findet der Leser im Buch. Zwischen einigen von ihnen gibt es Querverbindungen über Personen, Institutionen, Orte. Immer geht es um das Individuum, das außerhalb der Gemeinschaft steht, meist, ohne sich darum zu grämen; um Menschen, denen das Schicksal eher die Schattenseiten des Lebens zugedacht hat; um Situationen, die fordern, herausfordern, überfordern.

Sexualität, meist sehr offen und von dominanten Frauen geprägt, spielt in vielen dieser Geschichten eine Rolle - sie, oder eine andere Passion, die den Menschen letztlich aus der Bahn wirft oder eben aus der Gemeinschaft ausschließt. Es ist das Düster-Obsessive, das an den Geschichten fesselt, ein regelrechter Strudel, der den Leser wie den Protagonisten anzieht. Nicht alle Erzählungen wurzeln in der Politik, aber diese bleibt stets präsent, bildet, wie ja auch im so genannten wahren Leben, einen immer wahrnehmbaren Rahmen.

Die Protagonisten bleiben meist seltsam fremd, obwohl sie alles Andere als blutleer sind, und auch ihre Interaktionen miteinander haben oft etwas eigenartiges Formales, selbst bei Lust und Liebe; die Frauen wirken wie baugleiche Puppen. Doch plötzlich bröckelt die starre Fassade, und durch einen Riss schaut der Leser in einen Mikrokosmos an ganz persönlichen Absurditäten.

Und so ziehen sich Obsessionen, Absurdität und maßlose Erotik durch diese Geschichten, denen der Leser gespannt und verwundert folgt bis hin zum überraschenden Ende. Eine gelungene Geschichtensammlung, die fasziniert und nachdenklich stimmt.

(Regina Károlyi; 09/2010)


Guillermo Martínez: "Gewaltige Hölle. Erzählungen"
Übersetzt von Angelica Ammar.
Eichborn, 2010. 195 Seiten.
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