Henning Mankell: "Der Feind im Schatten"
Es ist fast zwanzig Jahre
her, dass der erste Roman mit Kommissar Kurt Wallander in Schweden
publiziert wurde. "Mörder ohne Gesicht" war ein erstaunlicher Einstieg,
der den weiteren Erfolg der Roman-Reihe begünstigte. Nach drei eher
durchschnittlichen Wallander-Romanen ("Die
Hunde
von Riga", "Die weiße Löwin", "Der Mann, der lächelte") sind vier
Romane hauptverantwortlich für den Medienrummel, der auch auf den
deutschsprachigen Raum übersprang.
Zwischen 1995 und 1998 in Schweden und zwischen 1998 und 2001 im
deutschsprachigen Raum folgte ein Höhepunkt nach dem anderen. "Die
falsche
Fährte", "Die fünfte Frau", "Mittsommermord"
und "Die
Brandmauer" sind allesamt exzellente Krimis, die tief in die
schwedische Gesellschaft und deren Abgründe eintauchen.
Dann sollte angeblich das Ende der Ära Wallander gekommen sein. Doch
Henning Mankell entschied sich, "Wallanders erster Fall und andere
Erzählungen" folgen zu lassen. Diese Geschichte kann mit den vier
vorhergehenden Romanen nicht mithalten. Die längste Erzählung,
"Pyramiden", ist ähnlich missraten wie "Der Mann, der lächelte".
Insgeheim hofften damals viele Liebhaber der Wallander-Reihe, dass mit
diesem Erzählungsband noch nicht das Ende der Fahnenstange
erreicht war. Wenig später kursierte dann das Gerücht, dass die Tochter
von Kurt Wallander, Linda, seine Nachfolge antreten und
ermittlungstechnisch für mehrere Fälle zuständig sein würde. "Vor
dem
Frost" erschien 2002 bzw. 2003, und das Pikanteste an dem Krimi
ist wohl, dass die eigentliche Hauptfigur Kurt Wallander ist. Linda
spielt, obzwar sie den Hauptpart einnehmen müsste, eine tragende, aber
eben nicht die wesentliche Rolle.
Nun aber kann die Akte Wallander geschlossen werden. "Der Feind im
Schatten" ist ultimativ der letzte Roman mit Kurt Wallander in der
Hauptrolle. Den "Notausgang" Linda Wallander gibt es allerdings immer
noch. Wenn sie die Karenzzeit hinter sich hat und wieder als Polizistin
ihr Geld verdient. Und da sind wir auch schon mitten in der Geschichte.
Kurt Wallander ist Großvater, er hat einen Alterswohnsitz bezogen, ist
nicht mehr der Hauptverantwortliche für die Leitung der
ermittlungstechnischen Sitzungen und wird immer vergesslicher. Er wirkt
müde, traurig, vom Leben gezeichnet. Dafür geht er angeblich gern auf
die Jagd. Kurt Wallander begeht einen unverzeihlichen Fehler. Er
vergisst in alkoholisiertem Zustand seine Dienstwaffe in einem Lokal und
wird daraufhin suspendiert. Auf die Entscheidung der Kommission wartend,
die für das Strafmaß verantwortlich ist, weiß er nicht so recht, was er
tun soll. Oder aber doch. Denn er schließt Bekanntschaft mit dem Vater
seines Schwiegersohns, dem ehemaligen Korvettenkapitän Håkan von Enke.
Er ist zu dessen 75. Geburtstag eingeladen, und der Mann spricht aus dem
Nähkästchen. Von Dingen, die Wallander zunächst überhaupt nicht
nachvollziehen kann. U-Boote in feindlichen Gewässern, Schweden und
Russland, Olof Palme. Höhere Politik irgendwie.
Nur wenige Tage nach der Offenbarung des Håkan von Enke in Richtung Kurt
Wallander verschwindet der U-Boot-Veteran spurlos. Kurt beschließt, der
Sache auf den Grund zu gehen. Er hat massenhaft freie Zeit und nutzt
diese, um an allerlei Orte zu fahren und mit allerlei Menschen zu
sprechen, die Kontakt zu Håkan von Enke unterhielten. Das Ziel ist
letztlich, ein Puzzle zu lösen, dessen Teile er nicht einmal zur Hälfte
kennt. Scheitern ist also vorprogrammiert, und somit ist es einigen
Zufällen und Begegnungen zu verdanken, dass Kurt Wallander auch seinen
letzten Fall positiv abschließen kann.
Trotz der zeitgeschichtlichen Komponente kommt der Fall selbst recht
behäbig daher. Die zahlreichen Bekannten, Freunde, ehemaligen Kollegen
von Håkan von Enke machen das Kraut nicht fett. Das Thema Spionage wird
angedeutet, vieles bleibt im Schatten, in letzter Konsequenz auch
Wallander selbst. Doch trotz des wenig erbaulichen Falls kann der Roman
als würdiger Abschluss der Wallander-Reihe gelten. Gründe dafür gibt es
einige.
Da ist einmal der Aspekt, dass Kurt Wallander dem Leser näherkommen mag
wie in keinem der anderen Fälle. Er wird in seiner Hinfälligkeit,
inneren Isolation, für seine Mitmenschen beängstigenden Schwermut
offenbar. Es ist, als ob Wallander lebendiger ist als je zuvor. Das hat
auch damit zu tun, dass er sich sehr viel mit dem Tod beschäftigt. Er
philosophiert, psychologisiert viel. Es ist aber nie psychologisches
Gesülze, das den Leser entnerven könnte. Die Allgegenwart des
wallanderschen Universums entschädigt für eine uninteressante Geschichte
mit Figuren, die tatsächlich im Schatten verweilen.
Es gibt eine Ausnahme in Gestalt der Tochter von Håkan von Enke und
seiner Frau Luise. Signe, eine Frau Anfang 40, die sowohl körperlich als
auch geistig schwer behindert ist. Im Zuge seiner privaten Ermittlungen
besucht Wallander das Heim, in dem Signe untergebracht ist. Er ist stark
betroffen von der Frau, die in gekrümmter Haltung auf dem Bett liegt.
Ihr Vater hat sie häufig besucht, ihre Mutter wollte nie etwas von ihr
wissen. Håkan von Enke hat wichtige Unterlagen im Zimmer von Signe
versteckt. Diese Unterlagen sind dann auch wesentlich für jene
Puzzleteile, die später einen Beitrag zur Lösung des Falls leisten.
Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, Fotos. Es existiert nur ein einziges
Foto, das Signe und ihre Mutter zeigt. Die Konfrontation mit einem
Menschen, der nie in seine Familie integriert wurde, löst zunächst Wut,
dann Betroffenheit in Wallander aus. Er überlegt, wie er gehandelt
hätte, wäre Signe seine Tochter gewesen.
Kurt Wallander hat Linda, und er will ein guter Opa sein. Sein
Schwiegersohn arbeitet zu viel. Er macht irgendwelche Finanzgeschäfte. Hedgefonds,
Derivate, was auch immer. Wallander hat davon keine Ahnung, es
interessiert ihn auch nicht. Aber der Schwiegersohn bleibt ebenso blass
wie die meisten anderen Figuren in der Geschichte.
Luise von Enke wird tot aufgefunden. Angeblich Selbstmord, doch daran
hat Wallander seine Zweifel. Die deutsche demokratische Republik kommt
ins Spiel, und junge Menschen, die dort zu perfekten Sportlern
herangezüchtet wurden. Und natürlich war einer der Protagonisten dabei,
als die ersten Ziegel der Berliner Mauer gesetzt wurden.
Wallander spürt Håkan von Enke auf, und dieser lüftet schließlich ein
Geheimnis, das Wallander nur bedingt erstaunt.
Kurt Wallander erinnert sich an seine alten Fälle, insbesondere an jene,
die seine Karriere beeinflusst haben. Damit schließt sich der Kreis, und
es bleibt kein Zweifel daran, dass er nie wieder in Buchform ermitteln
wird. Es ist ein unspektakulärer Schluss eines Phänomens. Wallander wird
wieder zur Figur, entschwindet im Schatten. Aber er war nie ein Feind
des Lesers. Nicht einmal die Mörder und Mörderinnen waren Feinde,
sondern gestrandete, vom Leben in die Mangel genommene Existenzen. Nur
im allerletzten Roman taucht doch ein Feind im Schatten auf. Einer, mit
dem niemand gerechnet hat.
Es ist nicht wichtig, dass der Fall selbst nur bedingt zu überzeugen
vermag. Ein bisschen schwedische Geschichte macht noch keinen
politischen Roman aus. Vielleicht ging es Henning Mankell aber auch gar
nicht darum. Vielleicht wollte er nur den ultimativ letzten Roman rund
um seinen verschrobenen Kommissar Kurt Wallander schreiben und seinen
Lesern einen Wallander aus Fleisch und Blut präsentieren, einen
Wallander in Nahaufnahme, einen Wallander tief in sein komplexes Leben
verstrickt wie wir alle. Und wenn es so sein sollte, dann ist es dem
Autor gelungen. Wallander lebt weiter in den Lesern, und Ystad wird eine
Stadt bleiben, die Krimiliebhaber aus aller Welt anzieht. Denn eines
steht fest: Kurt Wallander ist ein schwedischer Kommissar, der nirgends
sonst als in Schweden existieren könnte. Das mögen auch jene ahnen, die
überhaupt keinen Bezug zu
Schweden haben.
Ich werde Kurt Wallander vermissen. Aber ich habe wie alle anderen Fans
des Ausnahmekommissars die Möglichkeit, die Romane bei Gelegenheit
wieder hervorzukramen. Und mit jeder Begegnung mit Wallander wird er in
einem anderen Licht erscheinen. Es ist schön, dass er schließlich aus
seinem eigenen Schatten getreten ist und in seiner einzigartigen
menschlichen Unvollkommenheit sichtbar wurde.
(Jürgen Heimlich; 04/2010)
Henning Mankell: "Der Feind im Schatten"
Übersetzt von
Wolfgang Butt.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2010. 592 Seiten.
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Hörbuch, gelesen von Axel Milberg.
der Hörverlag, 2010.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 624 Seiten.
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