Jens Malte Fischer: "Gustav Mahler"
Der fremde Vertraute
Einmal Mahler bitte
Jens Malte Fischer studierte Germanistik, Musikwissenschaft und
Geschichte und war bis zu seiner Emeritierung Professor für
Theaterwissenschaften an der LMU.
Mahlers Kompositionen können wir heute hören, und insbesondere den
Sinfonien kommt man dank der Verbindlichkeit der sogar mit Mahlers
Vortragszeichen versehenen Partituren vermutlich recht nahe. Doch
lebendig wird die Musik erst vor dem Hintergrund des Komponisten und
seiner persönlichen, seiner musikalischen und epochebezogenen
Entwicklung. Das späte europäische 19. Jahrhundert war eine Zeit des
entstehenden Bürgertums, das aber seinen Platz noch suchte. Große
Literatur entstand, große Musik, politische Ideale wurden
wiederentdeckt, verändert und erstritten. Wien
war das kulturelle Zentrum Europas und Mahler mittendrin, Mahler, der
böhmische Jude. Selbst mit einer musikalischen Genialität ausgestattet
benötigt man eine ungeheure Energie, um sich durchzusetzen und der
Gesellschaft zudem noch als Wagner-Dirigent einen solch erstrangigen
Platz abzugewinnen.
Der Autor unterwirft sich keiner prologischen Einschränkung und keines besonderen
Fokus', wie es oft zu lesen ist. Sein impliziter Anspruch ist es
folglich, Mensch, Zeit und Werk so zu präsentieren, dass sich am Ende
ein geschlossenes Bild ergibt. Und, um dies gleich vorwegzunehmen, das
ist ihm rundum auf außergewöhnliche Art und Weise gelungen. Wenn man
parallel zur Lektüre zumindest die Sinfonien (Tipp: von Leonard "Lenny"
Bernstein) vorliegen hat, so zeichnet sich im Zuge der Erzählung ein
ungemein dichtes Bild dieses Ausnahmemenschen ab. Alle Sinfonien und die
wichtigsten sonstigen Werke werden sachkundig in einzelnen Kapiteln
vorgestellt und dazwischen immer wieder Mahler als wohl bedeutendster
Dirigent seiner Zeit mit den wichtigsten Orchestern in einigen großen
Konzertsälen und Opernhäusern seiner Zeit, von Wien bis New York.
Ein Vorteil eines mit nahezu 900 Textseiten derart umfangreichen Buches
über einen Komponisten
liegt darin, dass man Zeit hat, sich mit den Werken lektürebegleitend
intensiv auseinanderzusetzen. Auf Mahler muss man sich einzulassen
bereit sein, doch dann lernt man einen Komponisten kennen, der die Mühe
in großer Münze erstattet. Und selbst etwas sperrige Werke wie die 9.
Sinfonie gewinnen wiederum durch den zauberhaften 4. Satz. Bezüglich des
vierten Satzes von Mahlers 9. Sinfonie schrieb der Autor: "Wer
dieses Adagio hört und von ihm nicht im Tiefsten bewegt wird, der soll
weitere Bemühungen um Mahler stornieren: er ist für Mahler, und Mahler
ist für ihn verloren."
Erstaunt und auf eine andere Art ergriffen liest man sich durch das
Thema Mahler und der Antisemitismus hindurch. Erstaunt, weil auch
wiederholte Schilderungen dieser pathologischen Ansichten keine
Gewöhnung hervorzurufen vermögen, ergriffen, wenn man einen begnadeten
Musiker sieht, dem die Fähigkeit zu wirklicher Musikalität "rassisch"
abgesprochen wird, und das nicht nur von den üblichen Narren, die sich
im Dritten Reich ausleben konnten, sondern von gebildeten, kultivierten
Menschen, selbst von Musikern, wie das Beispiel Wagners
zeigt. Mahler schrieb an einen Freund: "Mein Judentum verwehrt mir,
wie die Sachen jetzt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. - Nicht
Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen.
Überall bläst jetzt derselbe Wind."
Mahler, dreifach heimatlos: "... als Böhme unter den Österreichern,
als Österreicher und den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt."
Dieser Ausspruch kann Mahler nicht sicher zugeordnet werden, aber er
resümiert pointiert.
Aufgrund seiner Genialität erlebte er große Triumphe, doch es fehlte
ihm, wie vielen Höchstbegabten, die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit
einem aus Talent und Leidenschaft geformtem Thema ein angenehmes Dasein
zu gestalten. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte ihm der
Antisemitismus die Suppe versalzen.
Der Autor spart auch nicht den privaten Mahler aus, den glücklosen
Familienmenschen zwischen einer aufreibenden Dirigententätigkeit und
seinen Urlaubskompositionen. Und man beginnt zu ahnen, was es bedeutet
hätte, mit ihm zusammengearbeitet zu haben, mit dem "Robespierre
am Dirigentenpult", wie es an einer Stelle heißt, der letztlich
nur 51 Jahre alt wurde.
Fazit:
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Taschenbuchausgabe der
2003 bei Zsolnay erschienenen Originalausgabe, die jedoch hinsichtlich
der Mahler-Rezeption aktualisiert wurde. Dem Text folgen eine 42-seitige
Mahler-Chronik, Literatur- und Siglenverzeichnis, Anmerkungen,
Werkverzeichnis und ein vierzehnseitiges Personenregister. Allein für
diesen Anhang muss man das Prädikat "vorbildlich" vergeben.
Der Text endet auf Seite 891 mit einer Empfehlungsliste für das Opus
Gustav Mahlers, in dem neben den Klassikern auch die wohlfeile
Gesamteinspielung der Mahler-Sinfonien für weniger als 30 Euro enthalten
ist. Um solche Angebote machen die meisten Komponistenbiografen einen
weiten Bogen.
(Klaus Prinz; 05/2010)
Jens
Malte
Fischer: "Gustav Mahler. Der fremde Vertraute"
dtv, 2010. 991 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Bernd Sponheuer, Wolfram Steinbeck (Hrsg.): "Mahler-Handbuch. Leben -
Werk - Wirkung"
Einflussreiches Schaffen Gustav Mahlers. Im Zentrum des Handbuches steht
die detaillierte Darstellung sämtlicher Werke Gustav Mahlers. Neben
einem biografischen Porträt werden die geistige Welt des Künstlers,
seine kompositorische Herkunft aus dem 19. Jahrhundert und sein
spezifischer "Ton" thematisiert. Auch die vielfältige
Rezeptionsgeschichte wird ausführlich dargestellt. Umfangreiches und
aktuelles Porträt des weltweit bekannten Komponisten - für Experten und
Interessierte ein Muss. (Verlag J.B. Metzler)
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Constantin
Floros: "Gustav Mahler"
Insbesondere das symphonische Werk Gustav Mahlers gehört bis heute zum
festen Repertoire der großen Konzerthäuser. Mit Constantin Floros
bietet ein international renommierter Mahler-Experte einen
biografischen Überblick über Mahlers eindrucksvolle Karriere - die ihn
bis an die Metropolitan Opera führen sollte -, über Mahlers
musikalisches Schaffen, aber auch über sein Privatleben und
insbesondere über seine Ehe mit Alma
Mahler. (C.H. Beck)
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