Leena Lehtolainen: "Ich war nie bei dir"
Im Jahr 2006, ein Jahr bevor
dieses nun in deutscher Übersetzung vorliegende Buch in Finnland
erschien, befand sich die damals schon in ihrem Heimatland berühmte und
beliebte Schriftstellerin Leena Lehtolainen nach eigenen Angaben in
einer Schaffens- und Lebenskrise. In dieser Zeit begegnet sie während
einer Lesung einer Frau, die in Leena eine ehemalige Studienkollegin
erkennt und sie anspricht. Sie erzählt von ihrem Schicksal sowie vom
rätselhaften Verschwinden ihres Mannes und trägt der Autorin ein für
diese, wie sie sagt, nicht ganz ungewöhnliches Anliegen vor. Sie fragt
sie, ob sie Lust hätte, die Geschichte ihrer Ehe und ihrer Familie in
einem Buch zu beschreiben. Sie erhoffe sich durch eine Beschreibung von
fremder Feder einen erkenntnisbringenden Aufschluss darüber, warum ihr
Mann Riku verschwunden sei. Zu diesem Zeitpunkt ist noch völlig unklar,
ob Riku ertrunken ist, sich umgebracht hat, oder einfach verschwunden
ist. Für alle Annahmen gibt es ausreichende Indizien, und Jaana, so
heißt die verzweifelte Frau, stellt der Autorin Leena in Aussicht, dass
sie für das Buch alle ihre Tagebücher, die sie seit Jahrzehnten führt,
lesen könne.
Die Autorin lehnt zunächst ab, doch während eines Erholungsaufenthaltes
in der Normandie überlegt sie es sich anders und sagt zu. Für den Leser,
der Leena Lehtolainen aufgrund vieler Bücher schätzen gelernt hat,
zunächst vollkommen unverständlich. Ein nicht unwesentlicher Teil der
Spannung dieses ungewöhnlichen Tatsachenromans besteht darin, dass ihre
wahren Hintergründe erst ganz am Ende offenbar werden, genau wie erst am
Ende das große Rätsel von Rikus Verschwinden gelöst wird.
Dazwischen erleben wir, anhand offenbar echter Tagebucheintragungen von
Jaana und Riku, eine sehr lebendige persönliche und notgedrungen
widersprüchliche Schilderung der Geschichte einer Beziehung, die mit
jedem Jahr mehr in die Krise gerät. Riku ist Pharmakologe, Jaana
arbeitet als Finnischlehrerin in einer Gesamtschule.
Während Riku nach anfänglicher Begeisterung immer mehr mit seiner Arbeit
unzufrieden wird und vielen dubiosen Praktiken in der
Medikamentenforschung auf die Spur kommt, ist Jaana mit ihrer Arbeit
recht zufrieden. Riku hat keinen Kontakt zu anderen Frauen, nachdem er
Jaana kennengelernt hat, doch Jaanas Tagebücher erzählen von ihren immer
wiederkehrenden Versuchungen durch andere Männer.
Rikus Arbeit braucht unbedingt eine begrenzte Anzahl von Tierversuchen,
was ihm immer wieder radikale Tierversuchsgegner bis vor die Haustür
bringt, die ihn beschimpfen und bedrohen. Er hat Angst um seine Familie
und gerät immer mehr in depressive Zustände, zieht sich zurück. Jaana
spürt das veränderte Verhalten ihres Mannes natürlich, aber sie schaffen
es nicht, über all das, was sie bewegt, zu sprechen. Sie entfremden sich
immer mehr voneinander und teilen damit das unglückliche, aber oft auch
selbst verursachte Schicksal unzähliger langer Beziehungen.
Dieses Schicksal und die Unfähigkeit, aus dem Gefängnis des Schweigens
herauszukommen, auch anhand der Tagebücher Jaanas und Rikus dokumentiert
zu haben, ist die eine literarische Leistung dieses Romans. Die andere
ist die hier nicht näher zu beschreibende Rolle der Autorin selbst in
dem ganzen Geschehen, deren kritische Selbstreflexion Hochachtung
verdient.
"Ich war nie bei dir" ist ein packender und dramatischer Eheroman, der
durch die hohe Kunst der Krimiautorin nicht nur zu einem Psychogramm
einer Ehe wird, sondern bis zur letzten Seite mit spannenden
Überraschungen aufwarten kann wie sonst nur ein Kriminalroman.
(Winfried Stanzick)
Leena
Lehtolainen: "Ich war nie bei dir"
(Originaltitel "Luonas en ollutkaan")
Deutsch von Gabriele Schrey-Vasara.
rororo, 2011.
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Ein weiteres Buch der
Autorin:
"Wer ohne Schande ist. Maria Kallio ermittelt"
Ein gewittriger Augusttag. In den Schären westlich von Helsinki treiben
zwei in Plastikplane eingewickelte Leichen.
Als Kommissarin Maria Kallio eintrifft, sind die kriminaltechnischen
Untersuchungen bereits im Gange. Bei den Toten handelt es sich um eine
nackte, auffallend schöne Frau um die fünfzig und einen Mann, dessen
Gesicht durch Gewalteinwirkung bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde.
Ein Lokalpolizist, der die Schärengegend sehr gut kennt, kann die Frau
schon bald identifizieren: Sie ist die Schwägerin einer ehemaligen
Eishockeylegende mit kompliziertem Familienhintergrund. Was sie
allerdings mit dem vorbestraften Arbeitslosen zu tun hatte, mit dem sie
zusammen gestorben ist, bereitet Maria lange Kopfzerbrechen ...
Ein packender Fall für die selbstbewusste Ermittlerin. (Kindler)
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Noch ein Buchtipp:
Roman Schatz: "Gebrauchsanweisung für Finnland"
Fünf Millionen Finnen, zwei Millionen Saunas und 200 000 Seen.
Roman Schatz über die Vorzüge einer Nation, für die kurze, taghelle
Sommer so selbstverständlich sind wie Eislochbaden,
Gummistiefel-Weitwurf-Meisterschaften und die Gleichberechtigung von
Mann und Frau.
"Wenn Schnaps, Teer und Sauna nicht helfen, dann ist die Krankheit
tödlich", so ein finnisches Sprichwort. Die Sauna ist
Finnlands bekanntestes Exportgut - gefolgt von "Nokia"-Mobiltelefonen
und den "Leningrad Cowboys".
Finnland
ist vor allem eines: intakte Natur; ein Paradies für Kanuten,
Langläufer, Fliegenfischer und Hundeschlittenfahrer. Der Deutsche Roman
Schatz erklärt dem Leser ein Land, das zu siebzig Prozent aus Wald
besteht und dessen Bildungssystem Weltspitze ist. Ein Volk, das als
wortkarg, skurril und dauermelancholisch gilt. Eine Sprache, die neben
"Honigpfote" noch elf Wörter für "Bär"
kennt, aber keines für "bitte". Und eine Kultur, deren erste eigene
Filmproduktion "Die Schwarzbrenner" hieß. (Piper)
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