Wojciech Kuczok: "Lethargie"

Karneval des Lebens

"Es gibt sieben Todsünden, und die schwerste von ihnen ist die Trägheit. Unter vielen Namen wird sie sich vor dir verbergen; meist wird sie als Trübsinn oder Melancholie erscheinen. Gib dich der Lethargie nicht hin, wenn sie dich einmal befällt, lässt sie dich nie wieder los. Die Nächte verschläfst du, die Tage vergähnst du; Schwierigkeiten meidend, Anstrengungen ausweichend, wirst du blind und taub für alle Elemente. Wie ein Wurm wird sie sich in dir einnisten. Statt Freude empfindest du Neid gegenüber allen, die das Leben genießen. Du wirst nicht leben, sondern verwesen, mit Schimmel vor dem Mund auf der Stelle treten, wenn andere singen, wirst du grollen." (Aus dem Roman)

Wojciech Kuczok hat sich ins Innere von Menschen begeben und lotet deren persönliches Dilemma aus. Drei Figuren und ihr jeweiliges Herzenspendant verfolgt der 1972 im oberschlesischen Chorzów geborene Autor durch den Alltag. Alle vereint diese titelgebende Lethargie, das Kennzeichen ihrer Lebenskrise. Kuczok setzt seine Protagonisten an den Wendepunkt einer Parabel und überlässt es ihnen, ob sie antriebslos ins Tal rollen oder sich ein anderer Weg auftut, ob sie in ihrer Apathie hängenbleiben oder ihr Leben verändern.

Da ist zum Ersten der homosexuelle Adam, "diplomierter Körperklempner", der sich aus den Fängen seines despotischen Vaters und der umsorgenden Mutter zu befreien sucht. Er liebt den "Süßen", an dem er zu gern seine medizinischen Fachkünste ausprobiert hätte. Der kleinkriminelle Junge allerdings mag keine Schwulen. Der Zufall führt beide trotzdem zusammen und dazu, dass sich etwas in Adam unwiderruflich verschiebt. Eine "fatale tektonische Unregelmäßigkeit ist entstanden, ein Riss, und nach diesem Riss passt Adam nicht mehr zu sich selbst. Er tritt aus sich heraus ..." Der Skandal im ländlich geprägten Elternhaus ist danach perfekt.

Der ehemalige Erfolgsautor Robert wiederum, Kuczoks Alter Ego, kämpft mit einer Schreibblockade. Diese setzte just in den Moment ein, als seine hysterische Ehefrau in sein Leben trat. Obwohl er von seinem Schwiegervater, einem landesweit bekannten konservativen Politiker, komfortable Bedingungen "auf einem staatlichen Posten mit landesüblichem Durchschnittsgehalt" und viel persönlicher Freizeit erhält, küsst ihn die Muse nicht mehr. Es scheint, als hätte sich die geistige Trägheit der Gattin klammheimlich an seine Synapsen geklammert und diese gelähmt. Die Schwiegermutter und ihr ostentatives Bewahren der Familienharmonie tut ein Übriges. Seelenlose Orte fordern ihren Tribut. Erst eine tödliche Diagnose lässt Robert resümieren, "dass er sein Leben so wenig gelebt hat, der Gehalt an Leben in seinem Leben war entschieden zu gering, als dass er sich danach sehnen könnte."

Dritte im Bunde ist Rosa, eine Schauspielerin und das "schönste Gesicht der Stadt, vielleicht sogar das schönste Gesicht des Landes". Ihr Ehemann, ein arrivierter Bankdirektor, hat sie mit erfolgreicher Anlegestrategie gekapert. Nun darf sie für ihn kochen, derweil er sie schamlos betrügt und gewissenhaft belügt. Aber nur zu ihrem Besten, denn die Gute soll sich nicht aufregen, leidet sie doch an einer epileptischen Schlafkrankheit. Doch Vorsicht! Ungeliebten Frauen, mag ihnen auch nicht viel widerfahren und ihr lebloses Leben "vor sich hin schimmeln und ihre Seele ersticken", ist der Begriff Betrug aus Vergeltung nicht fremd.

Immer wieder kreuzen sich die Wege der drei Protagonisten - zufällig oder nicht -, korrelieren ihre Lebensläufe und Schicksale. Mit psychologischem Feingefühl, zynischem Sarkasmus und erstaunlich viel Humor analysiert der Autor schonungslos das Chaos zwischenmenschlicher und die Disharmonien familiärer Beziehungen. Gleichzeitig zeichnet er bravourös das Bild einer zerrissenen polnischen Gesellschaft, eines problematischen Staates. Der Duktus Wojciech Kuczoks, der nach seinem schnellen Erfolg gleichfalls in ein derartiges Phlegma fiel, den eigenen Ton nicht mehr fand und am eigenen Tun verzweifelte, zeugt keinesfalls von Trägheit, sondern von Musik, Rhythmus, Kraft und Leidenschaft. "Lethargie" ist ein Buch, das süchtig macht. Auch wenn das hohe Tempo auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschen mag, so bewegt sich der Roman sprachvirtuos und stilistisch auf allerhöchstem Niveau.
Der Übersetzerin Renate Schmidgall darf für die kongeniale Übertragung ins Deutsche gedankt werden.

Tod, Liebe, Einsamkeit, scheinheilige Moralapostel, eine kaputte Gesellschaft und narzisstisch geprägte Politik sind Themen des großartigen Buches. "Lethargie" ist kein "unehrlicher Roman über Lebensfreude und Geborgenheit", sondern offenbart genau das Gegenteil. Wie schon Altmeister Milan Kundera schüttelt Kuczok das unerträglich leichte Leben durch und stellt ihm wütend Fragen. Eine Antwort erhält er nicht. Das ändert allerdings nichts an der Einschätzung des Werks: Hier offenbart sich allerbeste Literatur!

(Heike Geilen; 11/2010)


Wojciech Kuczok: "Lethargie"
(Originaltitel "Senność")
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp, 2010. 252 Seiten.
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