Christian Kracht: "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten"
Leben für den Krieg:
Nahezu majestätische Zustände in einer vom Krieg gezeichneten Schweiz,
geschildert von einem schwer greifbaren Ich-Erzähler.
"Ich wurde in einem kleinen Dorf in Nyasaland geboren, am Fusse der
Zomba- und Mulanje-Berge, vierzig Werst von der Grenze zu Mozambique
entfernt. (...) Ich erinnere mich an Hitze und Schatten, gelbe und
sanfte Nachmittage. Blaue Hibiskusbäume leuchteten abends jenseits der
Umzäunung am Rande unseres Dorfes. ich erinnere Staub, Berge und
Vögel."
Die Welt lebt im Krieg. Menschen, die vor 70 Jahren geboren worden sind,
kennen nichts Anderes als den Krieg, denn er tobt seit hundert Jahren.
Der in Afrika
geborene schwarze Ich-Erzähler lebt in der Schweiz
und ist Kommissär für die Schweizerische Sowjetrepublik, SSR. Er erhält
vom Revolutionskomiteee in Schweizerisch-Salzburg eine Depesche, die
ersucht, "einen gewissen Oberst Brazhinsky sofort festzunehmen."
Mit diesen wenigen Informationen wird der Leser in eine Welt
hineingeworfen, in der die Lebenshaltung der Bevölkerung nichts Anderes
kennt als den Krieg, der unaufhörlich weitergeht und den die SSR gegen
die verbündeten deutschen und britischen Faschisten für einen ewigen
Frieden führt.
Die Depesche erhält der Ich-Erzähler von einem untergebenen Beamten, dem
er eigentlich nicht traut. Doch der weitere Verlauf des Buches eröffnet
eine dystopisch erscheinende Gesellschaft, in der man letztlich keinem
trauen kann, da man sich nicht mehr sicher sein kann, wer für wen und
unter welchen Vorwänden arbeitet, welchen Idealen unterstellt ist und
mit welchen Mitteln voranzuschreiten gewillt ist.
"Ich trat hinaus in die Kälte, schlug die Tür hinter mir zu und
beobachtete eine Weile meinen Atem, um mich zu beruhigen. Revanchist,
Antisemit. Warum mussten nur manche Menschen in diesem Land so einen
Hass fühlen? Er wäre bei den Deutschen besser aufgehoben, im Norden.
Oder bei den Engländern. Vielleicht sollte man ihn austauschen,
vielleicht sogar verzeigen. Nein, das wäre der falsche Weg. Die Partei
durfte nicht zu einem Moloch
werden. Die Stärke der SSR war ihre Menschlichkeit."
Nach Erhalt der Depesche macht sich der Ich-Erzähler auf, Brazhinsky zu
suchen, und hier beginnt eine Reise, die den Rezipienten nahezu in eine
fantastische Lebenswelt mitnimmt. Es begegnen dem Leser Wesen, deren
klare Menschlichkeit nicht mehr gegeben ist. Da sind zum Einen natürlich
die deutschen Faschisten, sogar im Gesicht tätowiert und maßlos
barbarisch, aber auch die für die SSR arbeitende Divisionärin Favre, die
Brazhinsky zu kennen scheint, deren ursprüngliche Herkunft aber genauso
unklar bleibt wie die Wesenhaftigkeit Uriels, den der Ich-Erzähler im
Wald trifft und den er selbst als Zwerg bezeichnet. Uriel ist neben dem
Kommissär der Einzige in dem Buch, der noch liest, und Uriel erkennt in
dem Ich-Erzähler einen Menschen, von dem er in der Bibel
schon einmal gelesen hat.
Mit Voranschreiten des Romans erreicht der Kommissär sein Ziel: das
Réduit. Das ist ein riesiger Felsen, in dessen Innerem Menschen leben
und eine Art Gegenzivilisation erschaffen haben.
Surrealistisch muten die Erzählstränge Christian Krachts an, und doch
ist der Roman ganz klar in eine dystopische Ausgangssituation
integriert, die sich jedoch von dem gängigen Dystopiebild unterscheidet.
Dieses Buch ist keine Erklärung an den Leser oder eine Schilderung, die
mit vergleichenden Phrasen gespickt ist, wie man das von Aldous Huxleys
"Schöne neue Welt" oder zum Beispiel von Jewgenij Samjatin mit dem Roman
"Wir" kennt, die ihre Darstellungen ganz klar an die gegenwärtige Welt
angliedern und Vergleichspunkte suchen, die mit dem korrelieren, was der
Leser kennt, wovon der Leser abstrahieren kann. In Krachts Welt findet
dieser einen eher dokumentarischen Stil vor, eine Erzählung, die nichts
erklären, sondern einfach zeigen möchte, in welcher Welt sich der
Ich-Erzähler befindet.
Und genau das macht diese eindrucksvolle Welt aus, von der Christian
Kracht erzählt. Sie erinnert in manchen Zügen an die journalistisch
gehaltenen Reiseberichte des Autors.
Dabei spricht das Buch, ohne es zum poetologischen Kommentar werden zu
lassen, ganz nebenbei und in eben diesem dokumentarischen Stil von
Kunst, der Suche nach Freundschaft
oder menschlichen Bindungen, Werten wie Vertrauen, Wahrheit, Schönheit.
Häufig haben Autoren, die von utopischen oder dystopischen Welten
erzählen, das Verlangen, zu erklären, worin sich diese gezeigte Welt von
der uns bekannten unterscheidet. Oft deklariert sich damit ein Buch zur
Verhaftetheit im "eigentlichen" System, nämlich parallel zur Gegenwart
des Werkes. Natürlich ist kein Roman frei davon, da jeder Schriftsteller
in einer bestehenden Kultur lebt und Produkt dieser ist. Doch ganz klar
muss man im Hinblick auf Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im
Sonnenschein und im Schatten"’ sagen, dass dieser sich jedweden
Kommentars entzogen und somit die Darstellung einer Welt geschaffen hat,
in die der Leser einen unsagbaren Einblick bekommt, mit dem er selbst
umgehen und fertig werden muss. Und das spricht ganz eindeutig für das
Buch.
(Christin Zenker; 02/2010)
Christian Kracht: "Ich werde hier sein im
Sonnenschein und im Schatten"
Gebundene Ausgabe:
Kiepenheuer & Witsch, 2008. 160 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.
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