Natsuo Kirino: "Grotesk"


Paranoia in Tokio

Zwei Schwestern: eine wunderschön, so schön, dass sich ihre Schönheit in den Augen ihrer unauffälligen Schwester in eine groteske Fratze verwandelt.
Zwei Freundinnen, eine talentiert und Klassenbeste, die andere nur bemüht, unter allen Umständen Klassenbeste zu werden.
Zwei Morde und ein verrückter Chinese ...

Das sind nur einige der Zutaten in Natsuo Kirinos spannendem Roman "Grotesk".

Nach ihrem Erfolgsroman "Die Umarmung des Todes", der in der englischen Ausgabe treffender mit dem Titel "Out" versehen ist, nun Natsuo Kirinos zweite Veröffentlichung in deutscher Sprache.

Natsuo Kirino folgt dem bereits im Vorgänger eingeschlagenen Weg und durchleuchtet die dunklen Seiten der menschlichen Psyche. Obschon die gesellschaftlichen Zwänge, die Ausgangspunkt für diesen Roman sind, in dieser Form wahrscheinlich nur in Japan vorkommen, ist dieser Roman in vieler Hinsicht doch im besten Sinne des Wortes international.

Der erste Teil "Ein Schaubild mit Phantomkindern" ist der erste Monolog der unhübschen, und wie sich im Verlauf des Romans immer deutlicher zeigen wird, extrem verklemmten Schwester. Monolog deshalb, weil Natsuo Kirino die Ich-Erzählerin zum Leser sprechen lässt, man wird zur Glaubwürdigkeit des Erzählten quasi befragt, mit einbezogen und ist nach anfänglichen Irritationen doch bald fest im Geschehen, das mit der Information über die Morde an Yuriko und Kazue beginnt, gefangen.
Man erfährt den Hintergrund des Hasses auf die außergewöhnlich schöne Schwester sowie von der lieblosen Beziehung zu ihren Eltern. Durch den Umstand, dass ihr Vater Schweizer und die Mutter Japanerin ist, werden weitere Probleme losgetreten, die die Psyche der Schwestern auf unterschiedliche Art und Weise formt.

Der zweite Teil "Ein Büschel nacktsamiger Pflanzen" setzt den Monolog fort und beschäftigt sich nunmehr mit der Schulzeit der Mädchen auf der renommierte Q-Schule nach dem Selbstmord der Mutter. Hier werden die gesellschaftlichen Zwänge anhand einiger Schuljahre auf eindrucksvolle Art durchleuchtet. Die beiden Schwestern sind scheinbar nur mehr durch eine Form der Hassliebe verbunden, eine Art paranoiden Beobachtungs- und gleichzeitig Abgrenzungswahns. Hier wird auch der Grundstein der Beziehung zu den Freundinnen Mitsuro und Kazue gelegt.

Der dritte Teil "Die geborene Hure: Yurikos Tagebuch" ist nun Yurikos Tagebuch, das allerdings auch eher in Form eines Briefes oder eines Monologs gehalten ist. Yuriko erzählt von ihrem Weg in die Prostitution, der nach ersten inzestuösen sexuellen Erfahrungen mit dem Bruder ihres Vaters schon früh an der Q-Schule beginnt. Durch einen Mitschüler, der die nymphomanische Natur der schönen Yuriko instinktiv spürt und als anscheinend einziger Mann nicht mit Lust reagiert, lässt sie sich an reiche Mitschüler, Professoren und Sportler verkaufen und beginnt ihr Leben als Prostituierte. Durch einen aus Rache getätigten Hinweis der eigenen Schwester fliegen beide von der Schule. Nun führt für Yuriko kein Weg zurück. Eindrucksvoll wird die andere Seite der Geschichte geschildert, neues Licht wird zugelassen, und die Vermutung, die während der ersten beiden Teile immer stärker geworden ist, dass die bisherige Erzählerin an einer paranoiden, verklemmten Störung leidet, wird nun zur Tatsache. Die Schwester scheint an einer fast hysterischen Reaktion auf jegliche Form der Liebe, Nähe oder Sexualität ihr naher Personen zu leiden, auch wenn sie sich jeden Mann als potenziellen Vater eines Kindes bzw. das mögliche Kind dieses Mannes vorstellt. Yurikos Welt dagegen braucht die Sexualität, wohl eine Sexualität, die aus reiner Befriedigung der Lust, egal durch welchen Mann, vom intelligenten und gepflegten bis hin zum ungehobelten und ungepflegten besteht. Die krankhafte, sadomasochistisch verwurzelte Sucht, den eigenen Körper zu verkaufen, die in diesem Fall die umgedrehte Form der Unfähigkeit, Nähe und Gefühle zuzulassen, ihrer Schwester ist.

Im vierten Teil "Welt ohne Liebe" rechtfertigt sich die Schwester, reagiert auf die in Yurikos Tagebuch formulierten Angriffe und erzählt weiter aus dem Leben Yurikos, Mitsuros und Kazues aus ihrem Blickwinkel. Dem Titel des Abschnitts entsprechend wird klar, wie lieblos und einsam ihre Welt ist.

Im fünften Teil "Meine Verbrechen: Zhangs schriftlicher Bericht" erzählt der Chinese Zhang von seiner Kindheit, seiner Flucht, seiner Schwester und ihrer Prostitution sowie seiner eigenen Prostitution. Er erzählt dem Gericht vom Tod seiner Schwester, von seinem Leben in Japan und den beiden Prostituierten Yuriko und Kazue. Während er den einen Mord zugibt, ist unverständlich, wieso er den zweiten nicht gesteht.

Der sechste Teil "Gärung und Verwesung" ist wieder der Monolog der unattraktiven Schwester, die sich nun hauptsächlich mit dem Mordprozess und den damit verbundenen Umständen beschäftigt.

Im siebenten Teil "Jizo der Sehnsucht - Kazues Tagebücher" erlebt man den Abstieg der bemühten Schülerin von der Gelegenheitsprostituierten mit Anstellung in einer wichtigen Firma zur Straßenprostituierten, die zu allem bereit ist und sich am Ende hilflos nach Zuneigung sehnend ihrem Mörder ausliefert.

Mit "Das Rauschen des Wasserfalls: das letzte Kapitel" schließt dieser Roman, ein trügerischer Schluss, der zeigt, wie sich die übergebliebene Schwester nun mit aller Vehemenz um den blinden Sohn ihrer Schwester kümmert. Natsuo Kirino lässt hier die Handlung auseinanderlaufen und erzeugt ein offenes Ende, das nachdenklich stimmt und viel von dem bisher Vorgefallenen in Frage stellt bzw. die Belichtung der Ereignisse leicht verändert ...

Natsuo Kirinos Roman ist ein beklemmendes Psychogramm von auf unterschiedliche Art und Weise ausgelebter bzw. nicht ausgelebter Liebesunfähigkeit, von großer Einsamkeit und Trostlosigkeit. Ein dunkles Buch, das erst durch das Zusammenfügen der verschiedenen Blickwinkel als Gesamtes seine Stärke erreicht. Natsuo Kirino zeichnet ein schwarzes Bild der heilen Gesellschaft, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert, in der Ansehen und Erfolg wichtiger als Gefühle sind, in der Glanz und Schimmer die wichtigsten Zutaten sind. Ein verstörender Blick mit dem Vergrößerungsglas auf eine kleine Gruppe von Menschen in der Metropole Tokio, die versuchen, das Leben zu meistern, und doch alle kläglich scheitern.

Der Roman ist eigenartigerweise eine Übersetzung der us-amerikanischen Buchausgabe. Sprachlich ist bei dieser Übersetzung einer Übersetzung nicht alles überzeugend. Wie weit das jetzt auf diesen Umstand zurückführt, ist nicht eindeutig klar. Nicht unwichtig ist auch, dass Goldmann auch das zensurierte und für die us-amerikanische Ausgabe umgeschriebene letzte Kapitel übernommen hat. Die einem Interview mit Natsuo Kirino entnommen Äußerungen zum letzten Kapitel zeigen einen doch brutaler und rachsüchtiger ausklingenden Roman.

Am Ende klappt man das Buch zu und hat 638 Seiten eines spannenden Romans hinter sich, der sich eigentlich auf erfreuliche Weise jeglicher Schublade verweigert, der Krimiliebhaber enttäuschen wird, da er für die Genres zu wenig Tempo hat bzw. kein Geheimnis aus der Antwort nach dem Mörder macht, und der für Leser anspruchsvoller Literatur möglicherweise zu viel Handlung und zu wenig literarische Finessen bereit hält.

"Grotesk" ist eine fesselnde Geschichte von Obsessionen, Neid, Gier, Paranoia, Sex (obwohl es fast keine wirklichen Sexszenen gibt), Inzest, Perversionen, von einer dunklen Seite Tokios und einer schmuddeligen, harten und unschönen Seite Japans.

(Roland Freisitzer; 06/2010)


Natsuo Kirino: "Grotesk"
(Originaltitel "Grotesque")
Übersetzt von Rainer Schmidt.
Goldmann Verlag, 2010. 638 Seiten.
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Natsuo Kirino wurde 1951 in Kanazawa geboren und lebt seit ihrer Jugend in Tokio. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Seikei Universität, bevor sie sich zu einer Karriere als Schriftstellerin entschloss. Mit ihrem Roman "Die Umarmung des Todes" gelang ihr der große internationale Durchbruch.

Weitere Bücher der Autorin:

"Teufelskind "
Aiko Matsushima ist mit den Abgründen des Lebens von Kindesbeinen an vertraut. Sie wächst in einem heruntergekommenen Bordell in Tokio heran, von ihrer Mutter fehlt jede Spur. Außer einem Paar weißer Schuhe ist dem ungeliebten Kind nichts von ihr geblieben, und so muss Aiko früh lernen, sich in einer Welt voller Kälte und Rücksichtslosigkeit zu behaupten.
Auch als sie älter wird, hat sie es nicht leicht. Sie schlägt sich mehr schlecht als recht als Prostituierte, Zimmermädchen oder Kellnerin durch, stets umgeben von Schmutz, Armut und Elend - von Menschen, die Gescheiterte sind wie sie selbst. Und unmerklich wächst etwas in ihr heran, das eines Tages mit Macht an die Oberfläche drängt: Sie, die mit dem Rücken zur Wand steht, ist nun bereit, alle Tabus zu brechen. Getrieben von mörderischem Hass, bricht sie auf zu einem beispiellosen Rachefeldzug - und dabei kennt ihr Mörderinstinkt keine Gnade ... (Goldmann)
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"Die Umarmung des Todes"
Yayoi Yamamoto arbeitet Nacht für Nacht in einer Essenspaketefabrik am Rande Tokios, um endlich das Geld für eine eigene kleine Wohnung aufbringen zu können. Doch als sie herausfindet, dass ihr Mann Kenji ihre gesamten Ersparnisse verspielt hat, verliert sie die Nerven und bringt ihn im Affekt um. Verzweifelt versucht Yayoi zusammen mit drei Kolleginnen die Tat zu vertuschen, doch mit jedem Schritt geraten die Frauen tiefer in einen unentrinnbaren Sog des Verderbens ... (Goldmann)
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