Tobias Niemann: "Kamasutra kopfüber"

Die 77 originellsten Formen der Fortpflanzung


Wenn Transsexualität und Keuschheitsgürtel die Norm sind

Die Liebe ist im Allgemeinen eine höchst komplizierte Angelegenheit. Dies glauben zumindest die meisten Menschen, und nicht umsonst handeln so viele Bücher von ihr - wie auch das hier besprochene.

Nun gut, an dieser Stelle muss einschränkend erwähnt werden, dass sich das Buch mit der Fortpflanzung befasst, mithin - gewissermaßen - dem biologischen Aspekt der Liebe, und in dieser Hinsicht können uns zahlreiche Arten lehren, um wie viel komplexer sich diese gestalten lässt als beim Menschen.

In der Einführung erfährt der Leser die mutmaßlichen Gründe dafür, dass es Sexualität überhaupt gibt. Denn grundsätzlich notwendig ist sie nicht für die Vermehrung von Lebewesen, jedoch ein, so unromantisch es klingt, nützliches Instrument zur Verbesserung der biologischen Konkurrenzfähigkeit von potenziellen Nachkommen.

Den Anfang des Reigens von Arten mit außergewöhnlich erscheinendem Sexualverhalten machen die Grünen Bonellien, Meeresbewohner, deren Weibchen rund einen Meter groß sind, während die ihren Verdauungstrakt bewohnenden Männchen, früher für Parasiten gehalten, gerade einmal einen Millimeter messen - ein Indiz dafür, dass bei den Herren der Schöpfung nicht unbedingt Größe zählt.

Viele Beispiele gibt es für absonderliche Tricks, mittels derer bei nicht vorwiegend monogamen Arten schwächere Männchen zum Zuge kommen. Da tun die "Jungs" unter Umständen sogar so, als ob sie Weibchen wären, um dominante Männchen auszutricksen, und jubeln den Damen heimlich ihr Sperma unter, oder sie nutzen den Zeitfaktor und warten ab, bis sich die Starken allzu sehr verausgabt haben und nicht mehr viel geht.

Andere Beispiele zeigen, wie es männlichen Tieren gelingt, die Geschlechtsöffnung der Dame ihrer Wahl nach der Begattung so zu verschließen, dass sie einen regelrechten Keuschheitsgürtel trägt, oder das Sperma von Vorgängern geschickt zu entfernen. Samen- und auch Eierraub, wie sie die Boulevardpresse lieben würde, gehören im Tierreich ebenfalls zur Norm. Erwähnt werden sollte überdies ein Fisch namens Amazonen-Molly, mit den Guppys verwandt, der sich durch Jungfernzeugung fortpflanzt, somit also nur weibliche Tiere hervorbringt, jedoch das Sperma von Männchen anderer Arten zur Reifung der eigenen Eier benötigt. Die Gene der Liebhaber werden freilich nicht übernommen.

Ist das zur Fortpflanzung erforderliche Verhalten schon spannend genug, so gibt es natürlich auch höchst interessante Stellungen, die im Buch beschrieben werden. Das titelgebende Kamasutra kopfüber etwa praktizieren Fledermäuse; beim Vierauge, einem Fisch, können aufgrund eigenwilliger Anatomie nur "Rechtsflösser" mit "Linksschuppen" und umgekehrt zusammenkommen. Die männliche Gottesanbeterin muss sich der weiblichen Angebeteten raffiniert von hinten nähern, um zum Zuge zu kommen, und bekommt dann doch den Kopf abgebissen - doch auch kopflos steht der Gottesanbeter seinen Mann. Bei manchen Kraken wird ohne Körperkontakt, mittels eines speziellen, abwerfbaren Armes, kopuliert.

Und so richtig bunt erscheint das Liebesleben bei Arten mit gelegentlichem Geschlechtswechsel von Individuen.

In kurzen Kapiteln, sachlich und dabei doch stets mit einem Augenzwinkern, stellt der Autor die ungewöhnlichen Fortpflanzungsstrategien unserer irdischen Mitbewohner vor, natürlich immer mit einer Erläuterung der Hintergründe, also des "Sinnes", sofern bislang bekannt. Der Leser staunt über die verblüffenden Varianten zum Thema Sexualität, deren sich die Evolution bedient, und häufig muss er schmunzeln, denn, ergänzt durch die humorvolle Beschreibung, erscheint doch manche spezifische Eigenheit allzu grotesk ... oder allzu menschlich. Als Naturwissenschaftler vertritt der Autor natürlich keinen anthropozentrischen Standpunkt, flicht aber, gewissermaßen in Anführungszeichen, Vermenschlichungen passend ein.

"Zur Nachahmung nur bedingt empfohlen!", liest man, optisch hervorgehoben, auf der Buchrückseite. Oh ja, manche Praktik wäre strafbar, wiewohl vielleicht - je nach persönlichen Vorlieben - nicht immer ohne Reiz, etwa das erwähnte Abbeißen des Kopfes oder das Verspeisen von Liebhabern.

Die aparten Illustrationen von Günter Mattei ergänzen den Text vorzüglich. Ein kurzweiliges und informatives, apart gestaltetes Buch, das sich für Menschen mit entsprechenden Interessen und Humor auch trefflich als Geschenk eignet!

(Regina Károlyi; 04/2010)


Tobias Niemann, Günter Mattei: "Kamasutra kopfüber. Die 77 originellsten Formen der Fortpflanzung"
C.H. Beck, 2010. 176 Seiten.
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