Ismail Kadaré: "Ein folgenschwerer Abend"
Dunkle Visionen
Ismail Kadarés Roman "Ein folgenschwerer Abend" beginnt 1943 mit dem
Einmarsch der deutschen Truppen ins seit 1939 von Mussolinis Italienern
besetzte Albanien.
Die beiden leidtragenden Protagonisten, den großen und den kleinen
Doktor Gurameto, führt er gleich im ersten Absatz ein.
"Niemals hatte es in der Beziehung zwischen dem großen und dem
kleinen Doktor Gurameto auch nur das kleinste Zeichen von Missgunst
gegeben. Obschon sie den gleichen Familiennamen trugen, waren sie
nicht miteinander verwandt, und ohne die Heilkunst hätten sich ihre
Schicksale vermutlich niemals berührt, jedenfalls wäre ihnen das von
beiden nicht gewollte Rangverhältnis, wie es sich in den Beinamen 'der
große' und 'der kleine' ausdrückte, erspart geblieben."
Meisterhaft hat Ismail Kadaré damit das Geschehen eröffnet, die Bühne
sozusagen für den folgenden Reigen von Missgunst, Intrigen, Eifersucht,
dummen Vorurteilen und Gewalt frei gemacht.
Obwohl die deutsche Armee präventiv Flugblätter verteilt, die die
Einwohner Gjirokastras von der vermeintlich friedlichen Absicht der
deutschen Truppen überzeugen sollen, wird der deutsche Spähtrupp von
einer kleinen Rebellengruppe angegriffen. Als die Deutschen mit ihren "Tanks
und anderen Kettenfahrzeugen mit ohrenbetäubendem Rasseln und
Kreischen" zur Rache antreten, entsteigt dem Führerpanzer des
großen Doktor Gurametos Studienfreund, Oberst Fritz von Schwabe.
Mit dem Hinweis auf den Ehrenkodex der Gastfreundschaft erzwingt sich
der Oberst ein rauschendes Fest im Hause des Doktors, bei dem Gurameto
die Freilassung der Geiseln mühevoll erzwingt. Symptomatisch für die
Einwohner Gjirokastras mischen sich bald Stimmen in den Chor der
Dankbaren, die den Doktor des Verrats und der Verbrüderung mit den
Deutschen bezichtigen. Bald interessiert sich niemand für die Leistung
des Doktors, die Geiseln gerettet zu haben, da die Dorfquerulanten immer
mehr Vermutungen und Verleumdungen in die Flammen der Gerüchteküche
werfen. Wen musste der Doktor verraten? Wen verkaufen? Wen hintergehen?
Viele Jahre später, bereits im kommunistischen Albanien, wird der Fall
Gurameto neu aufgerollt, was den beiden Gurametos, groß und klein, zum
Verhängnis wird, da die kommunistischen Peiniger Dokumente, Daten und
Fakten haben, die beweisen, dass der berühmte Oberst von Schwabe
zumindest in der Nacht des folgenschweren Abends längst tot war und die
damals gestreuten Gerüchte zur Frage des Verrats nun klären wollen.
Willkürlich und brutal werden die beiden Gurametos gefoltert, doch
während der kleine ein aus der Luft gegriffenes Geständnis
unterschreibt, können sie die Resistenz des großen Gurametos nicht
brechen, der ja, wie auch der kleine Gurameto, in keinem der
Anklagepunkte schuldig ist, was die Folterknechte zu immer drastischeren
Mitteln greifen lässt. Agenten aus der Deutschen Demokratischen Republik
wechseln sich als Begleiter der Verhöre mit sowjetischen Agenten in
Gjirokastro ab, die Aussicht auf einen fairen und für den Doktor
positiven Ausgang der Peinigungen ist nicht absehbar. Stalins
Tod ist dann der letzte Tropfen, der für die Schergen des Regimes
ungebändigten Hass auf Gurameto ausbrechen lässt, der mit dem Tod des
Doktors endet.
Es sind dunkle Visionen, die Ismail Kadaré in seinem Roman
heraufbeschwört und eindringlich auf den Leser wirken lässt. Eine
giftige Lawine der Missgunst und Intrigen, die am Ende jegliche
Anzeichen des Vorhandenseins von Moral und Ethik bei den Handlangern des
kommunistischen Regimes, das natürlich symbolisch für jede Art des
totalitären bzw. diktatorischen Regimes steht, wegfegt und persönliche
Rache und Genugtuung unter dem Deckmantel des Systems erlaubt. Somit
stehen die beiden Gurametos symbolisch für alle unschuldigen Opfer von
politisch motivierter Gewalt im zwanzigsten Jahrhundert, die ihren Mut
und ihre Hingabe mit dem Leben bezahlt haben.
"Ein folgenschwerer Abend" ist ein fast kafkaesker Wurf eines großen
Erzählers, dessen Bedeutung im deutschsprachigen Raum leider nicht
einmal annähernd seinem künstlerischen Rang entspricht. Eine spannende,
literarisch überzeugende Parabel, die, auch wenn sie auf den ersten
Blick die Geschichte Albaniens betrifft, so sehr unsere Zeit, mit
Guantanamo und Abu-Ghuraib, um hier nur zwei negative Beispiele zu
nennen.
Ein Roman, der zwischen den Zeilen lebt und den Leser zwingt, weiter als
das Geschriebene zu denken, immer weiter, um sich ihm mit voller Kraft
zu öffnen und dann, noch lange nach dem letzten Satz, nachbebt.
(Roland Freisitzer; 03/2010)
Ismail
Kadaré: "Ein folgenschwerer Abend"
(Originaltitel "Darka e gabuar")
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann, 2010. 201 Seiten.
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