James Joyce: "Prosa"


Dublins Homer

"Wenn es aber Joyce darum ging, seinen Roman auf der Antithetik von äußerster - zeitlicher und räumlicher - Konzentration und ungeheurer Erweiterung zu errichten, Dublin zum Zentrum eines theatrum mundi und den 16. Juni 1904 zum Ausgangspunkt einer Expedition in die Zeit zu machen, dann konnte er nicht mehr an dem traditionellen Erzählerstil des neunzehnten Jahrhunderts (einheitlich und in jeder Weise subjekt-bezogen) festhalten, der auch für Proust noch gültig war" - griffiger als es Walter Jens in seinem Band "Statt einer Literaturgeschichte" artikulierte, lässt sich die Bedeutung von Joyce für die Entwicklung literarischer Prosa in der Moderne wohl kaum fassen. Wenn es der Suhrkamp-Verlag nun unternimmt, einen voluminösen Band mit Joyce-Prosa herauszubringen, dann sei die Frage nach dem Zweck dieses Unternehmens erlaubt: Die Joyce-Liebhaber werden normalerweise längst die Gesammelten Werke von Joyce im Original und in der einen oder anderen geglückten Übersetzung im Regal haben - v.a. auch in leserfreundlicheren Volumina (z.B. in der von Suhrkamp damals von 1969 bis 1981 selbst besorgten Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden). Aber geben wir uns hier verlagsfreundlich (denn das Verkaufsrisiko liegt bei Suhrkamp) mit einer Sentenz des "Artist as a young man" zufrieden: "You see that it is that thing which it is and no other thing."

Eigentlich sollte es hier müßig erscheinen, zu den einzelnen Werken noch besonders originelle Anmerkungen liefern zu wollen, denn die gibt es bändeweise von Professoren und Feuilletonisten. Das quasi neue Interessante an dieser Edition sind die ergänzend beigefügten Anmerkungen deutschsprachiger Autoren zu James Joyce. Hermann Broch erörterte 1936 die Frage, ob in einer Zeit, in der die "Wertzersplitterung fortschreitet" und somit "ein immer größerer künstlerischer Aufwand erforderlich ist, um die Kräftesammlung zu bewältigen", die "Totalitätswerke ... immer komplizierter und unzugänglicher werden." Und schließlich fragt Broch, "ob eine Welt zunehmender Wertzersplitterung nicht schließlich überhaupt auf die Totalerfassung durch das Kunstwerk verzichten muss und sohin 'unabbildbar' wird." In einer gewissen Aberwitzigkeit korrespondiert hierzu eine Aussage von Joyce aus dem Jahr 1904 zu seinem "Ulysses": "Ich möchte ein Abbild von Dublin erschaffen, so vollständig, dass, wenn die Stadt eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwände, sie aus meinem Buch heraus vollständig wieder aufgebaut werden könnte." Mit Verlaub sei angemerkt, dass sich daraus eine ziemliche Zombie-Architektur ergeben würde, nachdem ja in diesem Roman der sogenannte "stream-of-consciousness" als zentrales Gestaltungselement eines literarischen Werkes eingesetzt wird.

In seinen Äußerungen zur Expressionismusdebatte verriet Bertolt Brecht, dass er "über den 'Ulysses' beinahe ebenso gelacht habe als über den 'Schwejk', und für gewöhnlich lacht unsereiner nur bei realistischen Satiren." Und dann möchte Brecht Joyce offensichtlich auch eine Art Realismus konzedieren: "Ein Realist schreibt so, dass er verstanden werden kann, denn er will auf wirkliche Menschen wirklich einwirken." Wenn nun auch gesagt wird, dass im "Ulysses" ein bestimmter Tag (der 16. Juni 1904) in der authentischen Stadt Dublin "beschrieben" wird, so erweist sich die Methode der Beschreibung doch als sehr viel sperriger und verwirrender, als man es vom poetischen oder bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts her gewohnt war. Man könnte natürlich eine Unterscheidung zwischen einem eher naturalistisch und einem eher symbolisch geprägten Realismus zusammenphilosophieren - plausibel erschiene es eher, dass Brecht bei Joyce aus Galgenhumor gelacht hat. Wolfgang Hildesheimer attestiert Joyce, er habe "die seelischen Mechanismen unbedeutender Menschen mit einer solch tiefen und erschöpfenden Einsicht" dargestellt wie kein Anderer. Dabei sei es ihm gelungen, "die absolute Wahrhaftigkeit zu wahren - und zwar in der Sprache der Objektivität und gleichzeitig der ironischen Distanz." Wir könnten die banale Frage stellen, wie ein Text gleichzeitig realistisch, wahrhaftig und ironisch sein kann - aber das führt wohl eher zu dialektischen Spitzfindigkeiten als die Lektüre der Joyce-Prosa zu erleichtern.

In Anlehnung an Homers Irrfahrten-Epos verarbeitet Joyce inhaltlich und stilistisch ja äußere Geschehnisse und Gedanken seiner Protagonisten mit all ihren Assoziationen. Durch seine Sprachexperimente haben sich ja recht unterschiedliche Autoren wie T.S. Eliot, Virginia Woolf, William Faulkner, Dos Passos oder Italo Svevo anregen lassen, wobei sich z.B. Alfred Döblin dagegen verwehrte, er habe sich von Joyce beeinflussen lassen. Kurt Tucholsky verglich in der "Weltbühne" den "Ulysses" mit einem Fleischextrakt: "Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden." Am despektierlichsten äußerte sich eigenartigerweise Virginia Woolf, die sich ja selbst der Bewusstseinsstrom-Technik bediente, indem sie den "Ulysses" als die "Arbeit eines überempfindlichen Studenten, der sich seine Pickel kratzt" bezeichnete.

Abgesehen von alledem hat Joyce im Grunde mit einem konventionellen Bildungsroman ("Ein Porträt des Künstlers als junger Mann") begonnen und daraus mehr und mehr seinen Schreibstil und die abstrusen Inhalte auswuchern lassen. Auffällig ist seine Affinität von Anfang an zur griechischen Mythologie, bemerkenswert bis genial ist eben das Phänomen, dass dieser Spagat bis in die irische Psyche gespeist aus autobiografischen Momenten mit Dublin als "Paradigma aller modernen Städte ... als Bühne für die Darstellung der Paralyse" (Anthony Burgess) überhöht wird zur symbolischen Allgemeingültigkeit. Zu seinem Verfahren hat Joyce einmal süffisant bemerkt: "Ich habe so viele Rätsel und Geheimnisse hineingesteckt, dass es die Professoren jahrhundertelang in Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe, und nur so sichert man sich seine Unsterblichkeit."

Heutzutage ist das freilich riskant, denn der sich überfordert fühlende Leser wird solche Lektüre sehr schnell wieder beiseite legen, und die polemische Frage sei erlaubt, ob sich die viele Arbeit für ein paar wenige Professoren wohl gelohnt haben mag. Wenn wir die traurige Entwicklung vom klassischen Ehrgeiz nach Universalbildung über die bildungsbürgerlich zusammengesuchte Allgemeinbildung bis zur modern kultivierten Infounterhaltung betrachten, deren Entwicklung einhergeht mit einer literarischen Trivialisierung in Produktion und Rezeption, dann erscheinen Autoren wie Joyce dermaßen abstrus, dass man ihnen nur noch mit zynischem Mitleid begegnen möchte. Denn den (natürlich us-amerikanisch betonten) Namen Homer kennen die nachrückenden Generationen nur noch aus der "Simpsons"-Serie. Für Hermann Broch stellte sich diesbezüglich die Frage, ob die Kunst zu seiner Zeit "sozial heimatlos" geworden sei, woraus mit dem "Erlöschen der Abbildungspflicht auch die Abbildungskraft" gelitten habe, woraus sich höchstens noch ein "unverbindliches Privatschaffen des Künstlers" ergebe, "soferne es für die Kunst nicht eine übersoziale Funktionswichtigkeit" gebe. Man mag nun soziale oder philosophische Maßstäbe an das Werk von Joyce anlegen, für den heutigen Durchschnittsbürger geschweige denn für die sogenannten "bildungsfernen" Schichten ist solche Literatur ein Ding der Unmöglichkeit - womit wir hier auch eine Elite-Diskussion lostreten könnten. Oder die naive Frage formulieren könnten: Warum muss Anspruch immer so anstrengend sein?! Broch gab sich da noch gnadenlos, indem er die "Pflicht der Dichtung zur Absolutheit der Erkenntnis" dekretiert. Dem Menschen sei es eigentlich aufgegeben, "das Leben mit letzterreichbarem Sinn zu erfüllen, auf dass es nicht umsonst gelebt sei." Die meisten Kulturerzeugnisse heutzutage scheinen überhaupt nicht mehr im Spannungsfeld Ästhetik - Ethik zu stehen, größtenteils hat man nicht einmal mehr Angst vor dem schleichenden Übergang zum Kitsch. Na gut, in diesem zwischen "PISA" und "BILD" mäanderndem Kulturklima hält der Suhrkamp-Verlag weiterhin seinen Bildungsauftrag hoch - Glückwunsch und Beileid dazu gleichermaßen!

(KS; 09/2010)


James Joyce: "Prosa"
Aus dem Englischen von Wolfgang Hildesheimer, Klaus Reichert,
Hans Wollschläger und Dieter E. Zimmer. Mit Materialien im Anhang.
Suhrkamp, 2010. 1676 Seiten.
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James Joyce: "Ulysses"

Der Roman, durch den James Joyce unsterblich wurde, schildert einen Tag im Leben des Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom, den 16. Juni 1904. Bald nach Erscheinen des Romans begannen Enthusiasten, diesen Tag zu feiern.
"Im Ulysses liegt das Dublin des 16. Juni 1904 vor uns ausgebreitet, durch die Fantasie unverändert und in fast allen Einzelheiten anhand von Karten und Adressbüchern nachprüfbar", schreibt Anthony Burgess. "Aber", so fährt er fort, "der Roman Ulysses, der Dublin verherrlicht, indem er es zu einer ewigen Stadt des Geistes erhebt, hat es auf nüchterne oder trunkene Weise auch verwandelt. Wer Dublin betritt, betritt Ulysses ... man begibt sich in die Fantasie von James Joyce."
Hier setzt die erste deutsche kommentierte Ausgabe des "Ulysses" ein. Sie verzeichnet - auf Grundlage von Don Giffords "Ulysses Annotated" -, was nachprüfbar ist: Orte, Institutionen, Ereignisse, Personen ebenso wie den Bildungsschatz, der in den Roman eingearbeitet ist. Und sie verweist - besonders in der kurzen Einführung zu jedem Kapitel - auf den Bauplan des Ganzen, auf die Quellen, vor allem Homers "Odyssee", und auf die Textur der internen Bezüge.
Und indem der Stellenkommentar nachweist, was nachzuweisen ist - samt Abweichungen von den Quellen -, erlaubt er uns zu verfolgen, wie die Fantasie von James Joyce aus einem hundsgewöhnlichen Dubliner Tag den "Welt-Alltag der Epoche" (Hermann Broch) gemacht hat.
Jedes Kapitel beginnt mit einem Einführungstext. Einfach und übersichtlich ist in der Marginalspalte und am Fuß jeder Seite der Stellenkommentar untergebracht. Personenverzeichnis und vielfältige Pläne von Dublin und Umgebung beschließen den stattlichen, schön gemachten, zum Blättern, Schmökern, Lesen ebenso wie zum Studieren anregenden Band.
Aus dem Englischen von Hans Wollschläger. Herausgegeben und kommentiert von Dirk Vanderbeke, Dirk Schultze, Friedrich Reinmuth und Sigrid Altdorf in Verbindung mit Bert Scharpenberg. Mit Plänen und Register. (Suhrkamp)
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Jörg. W. Rademacher: "James Joyce. Ein Leben in sieben Stationen"
In sieben Stationen zeichnet diese Biografie James Joyces Weg vom begabten Schüler zum berühmten Schriftsteller nach. Geboren in Dublin, lebte er in Triest, Rom, Zürich und Paris ein internationales, gleichermaßen irisch wie europäisch geprägtes Familienleben und pflegte intensive Verbindungen zu vielen Literaten und Intellektuellen seiner Zeit.
Joyces Leben stand ganz im Zeichen der Sprache, nicht zuletzt, weil er mehrere Fremdsprachen annähernd perfekt beherrschte und diese Kenntnisse auch in seine Werke, vor allem in den Jahrhundertroman "Ulysses", übernahm und in der Sprachsymphonie von "Finnegans Wake" auf die Spitze trieb. Doch auch abseits seines literarischen Schaffens erwies sich Joyce als Mann des Wortes, wie seine zahlreichen Briefe belegen, die ausführlich in diese Darstellung eingeflossen sind. Der Blick auf die Stationen von James Joyces Biografie eröffnet Perspektiven auf das vielleicht komplexeste Lebenswerk der literarischen Moderne, das den Leser auch bei mehrfacher Lektüre immer wieder neu herausfordert und bereichert. (Wvt Wissenschaftlicher Verlag Trier) zu einer Leseprobe ...
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