Emil Hakl: "Treffpunkt Pinguinhaus"
Spaziergänge mit dem Vater
Zu Fuß durch die
Geschichte einer Prager Familie
Der tschechische Titel "O rodičích a dětech" ("Von Eltern und Kindern")
beschreibt vollständig, was laut Klappentext ein langweiliges Buch sein
könnte: ein langer Spaziergang des 72-jährigen Ivan Beneš und seines
42-jährigen Sohnes durch die Gassen der Prager Vorstädte. Gut neunzig
Prozent des Texts sind Dialoge zwischen den zwei Sprechern, der
Austausch von Ansichten, Erzählungen aus der Kindheit Beider und
Kommentare zu familiären Vorfällen.
Das Pinguinhaus gab den Anlass zum deutschen Titel, in dem der
Treffpunkt an einem unspektakulären Nachmittag im Prager Zoo beschrieben
wird. Dort bessert sich der pensionierte Biologe die Rente als
Tiergartenführer für Busreisende auf. Die Pinguine
haben eine unergründliche Art, sich in der Gruppe zu bewegen. Einer
stürzt sich ins Wasser, alle anderen springen nach; kurze Zeit später
fällt es einem ein, mit Schwung aus dem Becken zu schießen, und wieder
tun es ihm die anderen nach. Diesem Gruppenspiel könnte der Sohn
stundenlang zusehen, doch er entschließt sich zur weitläufigen
Schlenderei mit seinem Vater, den er seit der frühen Trennung seiner
Eltern nur selten sieht. Der Biologe bleibt anfangs im belehrenden Ton,
erst im Lauf - besser im Gang - der Zeit wird das Gespräch lockerer,
offener und wohl auch getränkebedingt nach dem Besuch einiger
Gaststätten enthemmter, ohne stumpfsinnig zu werden.
Was am Weg sichtbar ist, wird zum Stichwort des Gesprächs. Erinnerungen
an die sowjetischen
Panzer
im Sommer 1968 in den Prager Einfahrtsstraßen sind Anlass für
Erinnerungen an den Opa, der den Russen Steine nachwarf. An einer
anderen Ecke erinnern sich die zwei mittlerweile nicht mehr ganz gerade
Gehenden an das erste private Gasthaus nach dem Ende des Kommunismus,
das sich bei der Eröffnung auch mit us-amerikanischen Fähnchen
schmückte. Aus dem tiefen Blick ins Glas entsteht auch Tiefsinniges,
entdecken die Männer immer Berührungs- und gemeinsame Erinnerungspunkte.
Wie aus den Beobachtungen entlang der Straßen entwickelt sich - für den
deutschsprachigen Leser zum Teil ähnlich schwer verständlich - das
Gespräch auch aus Zitaten und Wendungen der tschechischen Geschichte. Im
Anklang an Alexander Dubčeks berühmtes Zitat vom Sozialismus mit
menschlichem Antlitz schimpft der Vater auf die, die sich nach dem
Prager Frühling angepasst und dabei ihre Ideale aufgegeben haben. "Wie
die alle laviert haben, wie sie sich nach allen beiden Seiten
abgesichert haben, das Maul voll mit menschlichen Antlitzen und dabei
die Hose bis zu den Ohren voll, bei uns auch, ..." (Seite 133).
Doch bleiben historische Anklänge nicht auf die Tschechoslowakei
beschränkt, Beneš senior, der wohl nicht zufällig den selben Namen trägt
wie der unter dem Pseudonym Emil Hakl schreibende Autor Jan Beneš, ist
in Zagreb aufgewachsen und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Heimat
seiner Eltern übersiedelt. Als politisch benachteiligter Unternehmersohn
bringt er auch Außenperspektive in das Männergespräch ein. Frauen, also
Mütter, Ehefrauen, Gattinnen, Freundinnen und Kellnerinnen, bleiben im
intuitiven Gedankenstrom, der bald sich zu einem grotesken Dialog
aufbaut, eher peripher und meist ephemer.
Die Übersetzung des Berliners Mirko Kraetsch will das volkstümliche
Tschechisch in der Tradition von Jaroslav
Hašeks "Švejk" und der Bafler in den Romanen des erst vor wenigen
Jahren verstorbenen Biertischliteraten Bohumil
Hrabal wiedergeben. Doch der Versuch, die gesprochene Sprache der
Prager durch das Perfekt, durch eingestreutes "mal" oder "nix"
und Ausdrücke wie "rummachen" im Deutschen wiederentstehen zu
lassen, wirkt unnatürlich und wohl auch wegen der durch ausgedehnte
Verbalphrasen überlangen Sätze unnatürlich. Wie es besser geht, weiß ich
nicht. Das böhmakelnde Deutsch der genialen "Švejk"-Übersetzerin Grete
Reiner kann nach mehr als einem dreiviertel Jahrhundert auch kein
Vorbild mehr sein ...
Der Prager Prosaschriftsteller und Dichter Emil Hakl, Jahrgang 1958,
wurde in seiner Heimat mit zahllosen Prisen ausgezeichnet. Er schürft
erfolgreich am Erinnerungsflöz einer Gesellschaft und bietet seinen
Lesern Gelegenheit, sich mit kollektiv gültigen Erlebnissen zu
identifizieren. Auch wenn dies in einer anderen Sprache und für Leser
mit eigenen Erinnerungsmythen nicht immer möglich ist, bleibt das Buch
eine gelungene Erzählung, die über einen hervorragenden linearen
Erzählstil in die Schlingungen der Prager Straßen und der tschechischen
Gesellschaft führt.
(Wolfgang Moser; 11/2010)
Emil Hakl: "Treffpunkt Pinguinhaus.
Spaziergänge mit dem Vater"
(Originaltitel "O rodičích a dětech")
Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch.
Braumüller Literaturverlag, 2010. 180 Seiten.
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Emil Hakl (eigentlich: Jan
Beneš) wurde 1958 in Prag geboren. Er absolvierte das
Jaroslav-Ježek-Konservatorium und arbeitete in manuellen Berufen wie
auch als Texter in Werbeagenturen, Redakteur und Journalist. Er
debütierte 1991 als Lyriker, veröffentlichte aber seit 2001 vor allem
Erzählungen und Romane, zuletzt "Let carodejnice" ("Hexenflug", 2008).
Für die Novelle "Treffpunkt Pinguinhaus", anno 2002 in Prag erschienen,
wurde er mit dem tschechischen Literaturpreis "Magnesia Litera"
ausgezeichnet.
Weitere Buchtipps:
Milada
Součková: "Bel Canto"
Inmitten der mondänen Welt einer Gesellschaft von Künstlern, Lebemännern
und Großbürgern inszeniert sich Giulia geschickt als begabte Bel
Canto-Sängerin. Obwohl ihr jedes Talent fehlt, gelingt es ihr mit großem
Einsatz und nicht ohne Entbehrungen den Schein aufrecht zu erhalten. Das
Karussell der Freund- und Liebschaften und ihrer Karriereschritte (und
-rückschritte) dreht sich immer schneller.
Součková breitet ein buntes und schillerndes Kaleidoskop an Personal
aus, das zum Publikum für Giulia als Sängerin, Schauspielerin,
Drehbuchautorin oder Edelgeliebte wird. Giulia scheint zu scheitern und
tritt doch aus diesem Scheitern mit immer neuen Erfolgsgeschichten
hervor - nicht müde, diese zu verbreiten. Der Leser muss sich hüten,
Giulia zu glauben, aber darf er dem Erzähler trauen? Dieser entpuppt
sich schließlich als eifersüchtiger Liebhaber.
Milada Součková (1899-1985) verließ 1948 die Tschechoslowakei und zog in
die Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie in Chicago und Harvard
Bohemistik und slawische Literatur lehrte. Sie schrieb zahlreiche
Romane, Erzählungen und literaturwissenschaftliche Studien. Auf Milada
Součková berufen sich vor allem Autoren experimenteller Prosa. (Matthes
& Seitz)
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Martin
Šmaus:
"Mach mal Feuer, Kleine"
Andrejko ist kaum vier Jahre alt, als ihn sein Onkel Fero von der Roma-Siedlung
in den ostslowakischen Waldkarpaten zu Verwandten nach
Prag bringt, die dort am Rande der Legalität leben. Fero ist
tief beeindruckt von der Fingerfertigkeit des Jungen, die sich in der
Stadt sicher gewinnbringend einsetzen ließe. Andrejko lernt schnell.
Er bettelt und stiehlt, ein Leben als gesellschaftlicher Außenseiter
scheint vorgezeichnet zu sein. Doch Andrejko will sich nicht wie seine
Verwandten in den Nischen der Gesellschaft einrichten. Ihn zieht es
zurück zum ursprünglichen Leben in den Bergen.
Kraftvoll und poetisch erzählt Martin Šmaus von dem bewegten Leben
eines Roma-Jungen vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden
Kommunismus.
Martin Šmaus wurde 1965 in Jihlava (südöstlich von Prag) geboren.
"Mach mal Feuer, Kleine" ist sein erster Roman, für den er im Jahr
2006 mit dem "Magnesia Litera", dem bedeutendsten tschechischen
Literaturpreis, in der Kategorie "Entdeckung des Jahres" ausgezeichnet
wurde. (dtv)
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