Jürgen Peter Schmied: "Sebastian Haffner"

Eine Biografie


Ein Längsschnitt deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts

Wer schon immer wissen wollte, was Haffners zahlreichen Etikettierungen zufolge ein liberaler Konservativer ist, der kennt schon einmal einen guten Grund, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Der Journalist und Haffner-Biograf Uwe Soukup wird zitiert mit: "Vielleicht wird man Haffner am ehesten gerecht, wenn man vermutet, dass er gerne ein Konservativer gewesen wäre." "Politisch unbehaust" sei Haffner nach eigener Einschätzung gewesen. "Die klassische Biografenfrage 'Was hat ihn angetrieben?' ist im Falle Haffners also noch nicht hinreichend geklärt“, schreibt der Autor im Vorwort. "Um den Antriebskräften seines Handelns auf die Spur zu kommen, sollen deshalb im Folgenden seine Ansichten und Deutungen vor dem jeweiligen Zeithintergrund dargestellt werden. Nur so ist das zentrale Problem dieser Arbeit, nämlich ob Haffner ein Opportunist, ein vorsätzlicher Provokateur oder ein genuin eigenständiger Beobachter war, zu lösen [...]"

Raimund Werner Martin Pretzel wurde am 27. Dezember 1907 in Berlin geboren, wo er auch 91 Jahre und ein paar Tage später verstarb. Jugend und Schule verliefen in den Bahnen des gehoben Bildungsbürgertums, wenngleich natürlich angereichert durch Begriffe und Erfahrungen der damaligen Zeit wie Nation, Kriegsbegeisterung, Krieg und Ernüchterung, die Wirren der Straßenkämpfe zwischen Links und Rechts, dann Weimar, Salons, Wirtschaftskrise und Aufstieg Hitlers. Am 7. Dezember 1934 reichte Pretzel seine Dissertation über Fremdwährungsschulden bei der Juristischen Fakultät der Berliner Universität ein, und seine Promotion erfolgte am 11. Februar 1935. Zuerst war er im juristischen Staatsdienst, ab 1. März 1937 dann als "stilistischer Berater, Lektor und Kritiker" bei Ullstein. Erst 1938 emigrierte er nach England, nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Frau.

1940 änderte er seinen Namen, um als englischer Autor seine in Deutschland verbliebene Familie nicht zu gefährden. Paten standen hierbei Johann Sebastian Bach und indirekt Wolfgang Amadeus Mozart als Komponist der Haffner-Serenade und der Haffner-Sinfonie. Der neue Name Sebastian Haffner sollt für Engländer aussprechbar sein, aber auch an seine deutsche Herkunft erinnern. Nach Anfängen bei einer Exilzeitung gelang ihm 1942 der Sprung zur englischen Presse, namentlich zum "Observer", wo ihn auch eine enge Freundschaft mit dem späteren Herausgeber David Astor verband. Nun erklärte er bis 1954 den Engländern die Deutschen und Europa, ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, wie wir heute wissen. In dieser Zeit bildete er seine glänzenden journalistischen Talente aus, seine seltene Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in einfache Sätze zu gießen, gelegentlich angereichert durch kühne Ausflüge in die Welt der Unmöglichkeiten. Joachim Fest attestierte ihm eine "Vorliebe für das Denken in sozusagen freier Luft und ohne die Kettengewichte der Realität an den Füßen".

Doch wer konnte damals schon eine plausible Prognose für die weitere Entwicklung Europas abgeben? Es ging nicht nur um die Rolle Deutschlands in der Nachkriegsordnung, sondern auch um die Europas. Die sich abzeichnende bipolare Ordnung bildete eine Alternative, aber man diskutierte auch den Status Europas als dritte Kraft, trotz der militärischen "NATO"-Bindung. Verkompliziert wurde die politische Lage in England des Weiteren noch durch die Auflösungserscheinungen des staatstragenden und identitätsstiftenden British Empires. Natürlich kann man ob der teils unrealistischen Ideen schmunzeln oder den Kopf schütteln, doch wer die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts aktiv durchlebt hat und aus der Position der Mitte des 20. Jahrhunderts heraus versucht, einen Blick in die politischen Geschicke des Kontinents zu werfen, der wird zwangsläufig auf dünnes Eis geraten. Das Versprechen aus dem Vorwort, Haffners Wirken vor den Zeithintergrund zu stellen, löste der Autor jedenfalls auf überzeugende Art und Weise ein. Denn der Leser wird durchaus in die Lage versetzt zu klären, ob Haffner ein Opportunist, ein vorsätzlicher Provokateur oder ein genuin eigenständiger Beobachter war. Das versprechen zwar viele Autoren, doch nur wenige vermögen es am Ende auch einzulösen.

Im Januar 1954 wurde Haffner als Auslandskorrespondent nach Berlin entsandt, nicht zuletzt wegen dauerhafter Probleme mit seinem Kollegen William Clark. Nun begann er sich wieder in Berlin einzurichten und sich mit der deutschen Presse zu verflechten. Ab 1960 arbeitete er als Berlin-Korrespondent für "Christ und Welt", eine in Stuttgart ansässige evangelisch-konservative Wochenzeitung, und auch für die "Welt". Befremdlich ist es schon ein wenig, dass Haffner mit Altnazis wie dem Chefredakteur der "Christ und Welt" Giselher Wirsing zusammenarbeitete und sogar Hans Globke verteidigte. Die "Spiegel"-Affäre veranlasste ihn jedoch, seine in toto gemäßigt konservative Grundhaltung zu verlassen und fortan auf Seiten der Pressefreiheit gegen die Staatsmacht zu wettern, selbst um den Preis, sich mit der "Welt" sowie "Christ und Welt" gleichzeitig anzulegen. Doch er hatte sich längst einen Namen gemacht und schrieb mittlerweile für den "Stern", wo er zum Starkolumnisten aufzusteigen begann.

Gelegentlich irrlichterte er durch wechselnde politische Szenarien, verteidigte beispielsweise vehement die studentischen Revolten und sang Hymnen auf die UdSSR, selbst als deren Panzer 1968 den Prager Frühling niederwalzten. Haffners Weltsicht war geprägt von "einer kontrastarmen Optik", wie Schmied es plastisch ausdrückte, die ihn keine Zwischentöne wahrnehmen ließ. Bei alldem scheint er aber eine Art Nationalist gewesen zu sein: "[I]m ganzen scheint mir 'Nation' ein gesundes und heute fast unvermeidliches Prinzip, sozusagen die Außenseite von Demokratie und der Komplementärbegriff zu Imperialismus".

Er besetzte schon eine Reihe extremer Positionen. So kämpfte er mit Alice Schwarzer für die Abschaffung des Paragrafen 218 und wollte gar das Sexualstrafrecht deutlich gelockert wissen, plädierte dafür, alle Feiertage bis auf den 1. Weihnachtsfeiertag abzuschaffen. Auch eine Bildungsreform hatte er im Angebot und verdammte auf Wunsch Freud in Bausch und Bogen. Haffner lobte selbst 1973 noch die Mauer als stabilitätsstiftende Konstruktion und präsentierte im "NDR" die "Die heile Welt der DDR". Vollends unverständlich wurde Haffner, als er die Nominierung Sacharows für den Friedensnobelpreis als "böswilligen Unfug" deklarierte und stattdessen Breschnew vorschlug.

Zu seiner Zeit als "Stern"-Kolumnist schrieb er einmal: "Der Berliner Mauerbau war der Vater dieser Kolumne, die Spiegelaffaire die Mutter." Ersteres überzeugt ihn davon, dass eine Ostpolitik nötig war und Zweiteres, dass ein Regierungswechsel nötig war. Mit Willy Brandt waren beide Themen erledigt, und 1975 stellte Haffner folglich seine Tätigkeit als Kolumnist beim "Stern" ein.

1978 erschienen die "Anmerkungen zu Hitler", die ungezählten Spätgeborenen das Phänomen Hitler erklärten, treffender und konziser, als dies viele Historiker taten und tun. Das war nicht seine einzige historische Arbeit, wohl aber die bedeutendste.

Haffner spielte im Nachkriegsdeutschland schon eine bedeutende Rolle, da er Öffentlichkeit zur Verfügung hatte. Was ihn im Einzelnen bei Publikationen antrieb, ist natürlich im Detail nicht mehr nachzuvollziehen, aber der Positionswechsel - selbst in Grundsätzen - ist generell kein Makel, ein wenig intelligente Provokation ebenfalls nicht. Das merkt man spätestens dann, wenn intelligente Provokateure verstummen ...

Auf wohltuende Art steht in diesem Werk Haffner im Vordergrund und nicht der Biograf. Für diese detaillierte und ungemein sachkundige Biografie, die erahnen lässt, wie viel Arbeit dahintersteckt, wertete er als Erster den umfangreichen Nachlass Haffners im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde aus. So jedenfalls sieht lebendige Geschichtsschreibung aus, anspruchsvoll formuliert und perfekt lektoriert. Einzig die alte Rechtschreibung irritiert ein wenig.

Das Buch ist gebunden, umfasst 683 Seiten mit 49 Abbildungen, den Anhang bilden 150 Seiten Anmerkungen, ein mit 21 Seiten beachtliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. Perfekt!

(Klaus Prinz; 10/2010)


Jürgen Peter Schmied: "Sebastian Haffner. Eine Biografie"
C.H. Beck, 2010. 683 Seiten.
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