Jewgenij Grischkowez: "Flüsse"
Erzählung
Überzeugende Analyse der
sibirischen Seele
Nach Jewgenij Grischkowezs sensationellem Debütroman "Das
Hemd" liegt nun beim bewundernswerten Ammann Verlag das nächste
Werk des in Kaliningrad lebenden Autors vor.
"Flüsse" ist ein starker 170 Seiten langer Text, der seinem Titel mehr
als gerecht wird. Der 1967 in Kemerowo (Sibirien) geborene Jewgenij
Grischkowez lässt seinen Protagonisten, der möglicherweise ein alter ego
des Autors ist, oder auch nicht, über seine sibirische Kindheit und
Schulzeit sinnieren, über skurrile Jagdausflüge mit Freunden des Vaters
des Protagonisten und archäologische Erfahrungen mit Studienkollegen
nachdenken und liefert dem Leser einen von Idee zu Idee frei fließenden
Lesegenuss.
Vieles, wie auch das Dorfleben kommt bei Jewgenij Grischkowez nicht gut
weg; obschon die Möglichkeit besteht, dass sich der Protagonist ironisch
selbst aufs Korn nimmt.
"Ich verstehe nicht, und weiß nicht, wie man auf dem Dorf leben kann.
Mir erscheint das Leben auf dem Dorf unerträglich schwer, vor allem
grundlos schwer. Diese Sonnenauf- und Sonnenuntergänge, schneeweißer
Nebel über dem Fluss, der einen heißen Tag ankündigt, aus diesem Nebel
heraus das Brummen eines Motorboots, man hält die Angel in der Hand,
und hinter einem muht, klappert, kräht das Dorf ... All das erfreut
lediglich den fürs Wochenende angereisten Stadtmenschen ..."
Mit einer ordentlichen Portion subtilen Humors legt Grischkowez die
Seelenzustände und die durch die Sowjetzeit bedingten Ängste eines
waschechten Sibiriers dar und erklärt unter Anderem quasi nebenbei,
wieso eine Schapka-Uschanka (Anm. typische russische Kopfbedeckung) auf
dem Kopf eines US-Amerikaners unter keinen Umständen natürlich aussehen
kann und wieso man sibirische Stechmücken meiden und sibirische Pelmeni
und Borscht
genießen sollte.
Heitere Gedanken des Protagonisten
zu Italien, inklusive Form, Menschen, Kultur und der Küche
wechseln sich mit ebensolchen Gedanken zum klischeehaften Urlaubs eines
Sibiriers (egal ob allein, oder nicht) im Süden, sowie einer großen
Portion Nostalgie über eine vergangene und verlorene Zeit ab.
Er kennt sich auch mit der in Sibirien (und Russland) üblichen üppigen
und unvermeidlichen Gastfreundlichkeit der Sibirier (und Russen) aus.
"Auf einmal möchte der Pole oder Ungar, ganz zu schweigen vom Belgier
oder Österreicher, der mit dem Gefühl nach Sibirien gekommen ist,
gewissermaßen von der gesicherten Höhe der Zivilisation herabgestiegen
zu sein, gar nicht mehr so dringend nach Hause zurückkehren. Na klar!
Wo sonst auf der Welt geht an einem einzigen Abend dermaßen die Post
ab? Wo sonst wird man ihn über alles und jedes ausfragen, sich so
brennend für seine Meinung interessieren und ihm so aufmerksam
zuhören? Wo sonst wird man ihm so oft und bedeutungsvoll die Hand
drücken? Wann sonst wird er so viele, ihm nicht ganz verständliche
Trinksprüche zu seinen Ehren zu hören bekommen? Wo sonst wird man aus
irgendeinem Anlass seinetwegen ein solche Festmahl auftischen und so
viel Wodka trinken? ..."
Dass es in Sibirien Bären
en masse geben soll, ist anscheinend eines der meistverbreiteten
Gerüchte und unwahren Klischees, die über
Sibirien im Umlauf sind, denkt der Protagonist, bis er selbst
einem großen braunen Bären begegnet. Eine Begegnung, die ihm jedoch kein
Sibirier abnimmt.
Mit Verlauf der Erzählung merkt man, dass Jewgenij Grischkowezs Humor
und Selbstironie nur die vordergründige Schicht einer beeindruckenden
Erzählung ist, die bei genauem Lesen einen wirklich starken, von
russischer Schwermut durchtränkten Text freigibt, der unter Anderem
versucht, die Identität und Stellung des Protagonisten, quasi als
"Sibirier per se" in der heutigen Welt, mit der Last des zwanzigsten
Jahrhunderts auf dem Rücken, zu definieren.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 03/2010)
Jewgenij Grischkowez: "Flüsse. Erzählung"
(Originaltitel "Reki")
Aus dem Russischen von Beate Rausch.
Ammann Verlag, 2010. 170 Seiten.
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