Eckart Kleßmann: "Goethe und seine lieben Deutschen"

Ansichten einer schwierigen Beziehung


Lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung

Bei Umfragen zu den beliebtesten, besten oder berühmtesten Deutschen führt Johann Wolfgang von Goethe - ungeachtet der Problematik solcher Listen - in der Regel die Riege der Schriftsteller mit großem Abstand an. Doch es darf durchaus daran gezweifelt werden, ob die Stimmberechtigten ihren großen deutschen Dichter auch wirklich kennen, wobei es weniger darum geht, in kultiviertem Kreise den "Faust" auszugsweise zu deklamieren oder eine der vielen Geschichten zur Entstehung des "Heiderösleins" zum Besten zu geben, sondern eher darum, Goethe gesellschaftlich und politisch in seiner Zeit zu verorten.

Goethes Zeit spannt vom Spätbarock über Sturm und Drang, Klassik und Romantik bis zum Vormärz, vom höfischen Absolutismus über die Französische Revolution, Napoleon und den Wiener Kongress bis zum Hambacher Fest. Auch wenn exemplarisch in der beschaulichen Fürstenresidenz, abgesehen von napoleonischen Durchzügen, vieles beim Alten blieb, so ging die zunehmende Politisierung der Gesellschaft doch auch an Weimar nicht spurlos vorüber. Aber die Schwierigkeiten einer solchen Beziehung Goethes zu seinen Deutschen wird allein schon dadurch problematisiert, dass es weder ein irgendwie geartetes Deutschland gab, noch dass zu erwarten ist, dass Goethe und die Deutschen sich ähnlich entwickelten. Im Zuge einer herkömmlichen Biografie punktuell auf dieses Thema einzugehen, ist eine Sache, aber eine Monografie unter diesen Fokus zu stellen, eine völlig andere. Das sind hinreichende Gründe, sich einmal in aller Ruhe mit dem Thema und seinen Thesen auseinanderzusetzen.

Unser heutiges Bild Goethes ist aus der Distanz des vollständigen Blicks auf Leben und Werk gespeist und natürlich aus dem Urteil ganzer Generationen von Deutschlehrern. Dementgegen war, wie uns der Autor versichert, den wenigsten seiner frühen Veröffentlichungen bei deren Erscheinen eine große Resonanz beschieden. Die damaligen Ansichten über den Goethe der 1780er-Jahre hatten praktisch nichts mit dem postumen Urteil über den Dichterfürsten zu tun, der heute auch touristisch und kulturindustriell, wie man meinen könnte, Gegenstand nationaler Verherrlichung geworden ist. Damals missgönnte man ihm allein schon den lockeren Umgang mit dem Weimarer Nachwuchsfürsten Karl August. Aber das Missfallen äußerte sich nicht nur an der Person Goethes, denn in Briefen zirkulierte beispielsweise die deutliche Kritik Lessings am "Götz" und am "Werther". Friedrich II. wiederum wetterte ebenfalls gegen den "Götz", allgemein und der barbarischen Sprache wegen, die er selbst jedoch nur radebrechte. Obwohl dem "Werther" ein großer Erfolg beschieden war, erntete er bei den Wächtern religiöser Moral Empören, allen voran der berüchtigte Goeze, der schon Lessing zu schaffen gemacht hatte. Auch Goethes Bühnenstücke ernteten keine ungeteilte Bewunderung, so etwa die erfolglosen "Der Bürgergeneral" oder "Der Groß-Cophta". So auch mit Goethes späteren Orient- und Koranstudien, die im "West-östlichen Divan" ("ein Rätsel ohne Schlüssel", wie es ein Kritiker nannte) ihren Niederschlag fanden, konnte das deutsche Publikum nichts oder nur wenig anfangen. Aber Goethe selbst sparte auf der anderen Seite nicht mit öffentlicher gesellschaftlicher Kritik, wenn er beispielsweise in den "Horen" über ein "großes Publikum ohne Geschmack" schrieb, "das das Schlechte nach dem Guten mit eben demselben Vergnügen verschlingt", das vielfach seine Autoren nicht ernähren könne. Er beklagt auch eine fehlende Nationalkultur, die faktisch "durch fremde Sitten und ausländische Literatur" am Keimen gehindert würde. Selbst die "Xenien" dienten ihm und Schiller als Medium der Literatenschelte. Und so zog es ihn, wie uns der Autor versichert, nach anfänglichen Misserfolgen denn trotzig nach Italien. Ein hübscher Gedanke.

Goethes Leitmotiv war eine Art "lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung", der typische Standpunkt eines Arrivierten. Dass er der Französischen Revolution nichts Positives abgewinnen konnte, verwundert nicht weiter. Dass er Napoleon huldigte, schon eher. Napoleon ist dann auch wohl der größte Fleck auf Goethes politischer Weste. Die napoleonischen Heimsuchungen offenbaren Goethes politischen Charakter, dessen oberste Maxime in der Bewahrung der Ordnung lag. Denn in seinen Augen verbreitete die Revolution Unordnung, und Napoleon stellte dadurch, dass er das flächengreifende Feuer des Aufruhrs austrat, die über alles geliebte Ordnung wieder her. Als Napoleon selbst als Unruheherd begriffen werden musste, räumte Goethe in einem Gespräch mit Riemer bezeichnenderweise ein: "Außerordentliche Menschen, wie Napoleon, treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser."

Ludwig Börne, hier stellvertretend zitiert, verurteilte den "Fürstendiener und Stabilitätsnarren" Goethe mit deutlichen Worten: "Dieser Mann eines Jahrhunderts hat eine ungeheuer hindernde Kraft; er ist ein grauer Star im deutschen Auge ... Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum." Börnes Grund: Der Jahrhundertmensch Goethe war gleichgültig gegenüber den politischen Zuständen seines Landes und dem Elend seiner Landsleute; er war ein Konservator der feudalen Ordnung, "Dichter der Glücklichen ... nicht der Menge". Später einmal nannte er Goethe einmal den "gereimten" und Hegel den "ungereimten Knecht". Börnes Urteil mag letzten Endes auch ein wenig damit zusammenhängen, dass Goethe den Juden die Bürgerrechte verweigerte, ohne übrigens antisemitisch zu sein.

Es ist nun einmal nicht sonderlich schwierig, der Person und dem Werk Goethes eine geteilte Meinung entgegenzubringen. Der frühe, rebellische steht dem späten, angepassten "Götz" allzu offen gegenüber, der frühe, suchende "Faust I" dem späten, opulenten "Faust II". Aber wenn man nun einmal in Regierungsgeschäften steht, kann man eben keinen "Wilhelm Tell" schreiben.

Die Einschätzung, dass Schopenhauer sich mit Goethes Farbenlehre nur philosophisch und nicht naturwissenschaftlich auseinandersetzte, vermag der Rezensent allerdings nicht zu teilen. Zwar brachte Schopenhauer die Notwendigkeit eines notwendigen subjektiven Begriffes von Farbe ins Spiel, doch seine Betrachtungen beginnen durchaus naturwissenschaftlich bei der Retina und handeln auch von Nervenbahnen und Grundsätzen der Optik (siehe "Über das Sehn und die Farben"). Immerhin hatte Schopenhauer 1809 in Göttingen ein Medizinstudium begonnen, wenngleich er recht schnell seine eigentliche Leidenschaft entdeckte und zur Philosophie wechselte.

Fazit:
Dieses Buch hat das Potenzial, den Leser weit über die eigentliche Lektüre hinaus zum Nachdenken anzuregen. Sicherlich ließen sich noch weitere Aspekte, Bemerkungen und Zitate zum Verhältnis Goethes zu seinen Zeitgenossen finden. Doch der Autor erreicht es, dass man Goethe stärker aus dem Blickwinkel seiner Zeit sieht und möglicherweise den einen oder anderen Standpunkt überprüft. Das Buch präsentiert sich sprachlich exzellent und handwerklich dem hohen Reihenstandard entsprechend. Der Anhang beschränkt sich auf eine fünfseitige Bibliografie, ein Personenregister, das bei biografischen Werken inzwischen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, fehlt.

(Klaus Prinz; 07/2010)


Eckart Kleßmann: "Goethe und seine lieben Deutschen.
Ansichten einer schwierigen Beziehung"

Eichborn, 2010. 309 Seiten.
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