Milena Michiko Flašar: "Okaasan"
Meine unbekannte Mutter
Am Morgen des 27. September
1953 wurde in dem kleinen Dorf Parayakadavu im Süden Keralas ein kleines
Mädchen geboren. Ihre Eltern gaben ihr den Namen Sudhamani. Die meisten
Neugeborenen weinen bei ihrer Geburt. Sudhamani jedoch kam mit jenem
strahlenden Lächeln zur Welt, das sie später noch vielen Tausenden von
Menschen schenken würde.
Ihre Kindheit und Jugend verbrachte Sudhamani mit intensiven
spirituellen Übungen. Schon als kleines Kind konnte man sie oft in
tiefer Meditation
versunken vorfinden. Im Alter von fünf Jahren begann sie,
hingebungsvolle Lieder an das Göttliche zu komponieren, die von tiefen
spirituellen Erkenntnissen geprägt waren.
Außerdem konnte man bei Sudhamani schon früh ihre große Liebe und
Mitgefühl ihren Mitmenschen gegenüber beobachten. Obwohl sie nur ein
Kind war, unternahm Sudhamani alles in ihrer Macht Stehende, um das Leid
der älteren Menschen in ihrer Nachbarschaft zu mildern. Sie wusch deren
Kleider, badete sie und brachte ihnen sogar Nahrung und Kleidung aus
ihrem eigenen Elternhaus. Diese Eigenart, Sachen aus dem Haus ihrer
Familie zu verschenken, brachte sie in große Schwierigkeiten. Sudhamani
ließ sich jedoch durch keine noch so strengen Strafen und körperlichen
Züchtigungen davon abhalten, ihr tiefes Mitgefühl auf diese Weise zum
Ausdruck zu bringen. Später sagte sie einmal: "Von mir fließt ein
ununterbrochener Strom der Liebe zu allen Wesen dieser Welt."
Diesen Hintergrund muss man kennen, will man insbesondere den zweiten
Teil des vorliegenden Buches verstehen. Milena Michiko Flašar erzählt
zunächst im ersten Teil ihrer Erzählung vom langsamen Dahindämmern und
endlichen Sterben ihrer eigenen Mutter. Immer wieder lässt sie
Freundinnen und Freude von ihren eigenen Erfahrungen mit der Mutter bzw.
mit deren Sterben und Abwesenheit berichten. Diese, im ersten Teil des
Buches in knappen, sprachlich aber sehr schönen Textteilen
dokumentierten Erfahrungen von Menschen mit ihrer Mutter haben mich sehr
angesprochen und teilweise tief berührt.
Umso enttäuschter und befremdeter war ich, als die Autorin ohne
irgendeinen Übergang in einem völlig disparaten zweiten Teil nach
Indien zu der schon erwähnten Amma geht, sich dort mit einer Frau
anfreundet und von ihren spirituellen Erfahrungen mit dieser Mutter
erzählt.
Leider hat sie den nötigen dritten Teil dem Leser verweigert, in dem sie
hätte den Zusammenhang zwischen dem Verhältnis zur eigenen Mutter, deren
Verlust und die spirituelle Suche nach der "Amma" ansprechen und
reflektieren müssen. So jedenfalls kommt einem die spirituelle Suche wie
ein billiger Ersatz vor, etwas, das die schmerzliche Lücke füllen soll.
Milena Michiko Flašar kann wunderbar schreiben. Ich wünschte, bald einen
Roman von ihr zu lesen, in dem sie ihre sprachliche mit ihrer
spirituellen Tiefe zu verbinden versucht.
(Winfried Stanzick; 03/2010)
Milena Michiko Flašar: "Okaasan. Meine
unbekannte Mutter"
Residenz Verlag, 2010. 143 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Milena Michiko Flašar,
geboren 1980, Studium der Germanistik und Romanistik, lebt und
unterrichtet
in Wien Deutsch
als Fremdsprache. Publikationen in verschiedenen Literaturzeitschriften.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Ich nannte ihn Krawatte"
Ist es Zufall oder eine Entscheidung? Auf einer Parkbank begegnen sich
zwei Menschen. Der eine alt, der andere jung, zwei aus dem Rahmen
Gefallene. Nach und nach erzählen sie einander ihr Leben und setzen
behutsam wieder einen Fuß auf die Erde.
Nur wenige sorgfältig gewählte Worte benötigt Milena
Michiko Flašar, um ihre Figuren zum Leben zu erwecken, nur
wenige Szenen, um ganze Schicksale zu erzählen.
Ein junger Mann verlässt sein Zimmer, in dem er offenbar lange Zeit
eingeschlossen war, tastet sich durch eine fremde Welt. Eine Bank im
Park wird ihm Zuflucht und Behausung, dort öffnet er die Augen, beginnt
zu sprechen und teilt mit einem wildfremden Menschen seine Erinnerungen.
Der andere ist viele Jahre älter, ein im Büro angestellter Salaryman
wie Tausende. Er erzählt seinerseits, über Tage und Wochen hinweg,
Szenen eines Lebens voller Furcht und Ohnmacht, Hoffnung und Glück.
Beide sind Außenseiter, die dem Leistungsdruck nicht standhalten, die
allein in der Verweigerung aktiv werden.
Aus der Erfahrung, dass Zuneigung in Nahrung verpackt, Trauer im Lachen
verborgen werden kann und Freundschaften möglich sind, stärken sie sich
für einen endgültigen Abschied und einen Anfang.
Milena Michiko Flašar macht eine Parkbank zur Bühne, zu einem
huis clos unter freiem Himmel. Die Bank befindet sich in Japan und
könnte doch ebenso gut anderswo in der westlichen Welt stehen. Dieser
Roman stellt der Angst vor allem, was aus der Norm fällt, die
Möglichkeit von Nähe entgegen - sowie die anarchische Kraft der
Verweigerung. (Verlag Klaus Wagenbach)
Buch bei amazon.de bestellen