Ralph Dutli: "Fatrasien"
Absurde Poesie des Mittelalters
Ein Ritt auf dem
"Fliegenden Esel"
Was unterscheidet wie kaum eine andere Eigenschaft den Menschen vom
Tier? Die Fähigkeit zu lachen, so der griechische Philosoph Aristoteles.
Die katholische Kirche sah dies lange Zeit anders. Und Umberto
Eco hat in seinem Roman "Der Name der Rose" seinen Lesern das
Fehlen einer Scherz- und Lachkultur in der Kirche des Mittelalters ja
drastisch vor Augen geführt. Lachen galt als schamlos, sündhaft,
verdammenswert. Und tatsächlich entstanden in diesen düsteren, scheinbar
doch so humorlosen Zeiten im Frankreich des 13. Jahrhunderts die
vorliegenden "Fatrasien"; humoristische, karnevaleske, bisweilen völlig
absurde Kleinode einer zu ihrer Zeit verfemten Unsinnspoesie. Ralph
Dutli gebührt das Verdienst, sie zum ersten Mal ins Deutsche übertragen
zu haben, um sie somit auch hierzulande einem breiteren Lesepublikum
zugänglich zu machen.
Der Furz einer
Käsemade wollte in seinem Käppchen Rom davontragen. Ein Ei aus Baumwolle nahm den Schrei eines Ehrenmannes beim Kinn. Der Gedanke eines Spitzbuben hätte ihn schließlich fast verprügelt, als ein Apfelkern ganz laut ausrief: "Woher kommst du? Wohin geht's? Welcome!" |
Den französischen Originaltext liefert er uns gleich mit, was sehr zu begrüßen, ja geradezu unumgänglich ist, wie ich meine, da Ralph Dutli bewusst auf die exakte Wiedergabe der strengen, auf festgelegten Reimen basierenden Versform der "Fatrasien" verzichtet hat, was diesen Versen einerseits etwas nimmt, andererseits aber ihren Sinn- bzw. Unsinnsgehalt ziemlich genau wiedergeben kann. In des Herausgebers Worten: "Die strenge, enge Form zu reproduzieren wäre ein Unternehmen von fatrasischer Unmöglichkeit. Hier wird gleichsam das geschliffene Juwel von seiner Fassung in den Zustand des sprachlichen Rohdiamanten zurückgeführt." |
Wer also etwas Französisch
kann, der wird ungleich mehr Vergnügen an den Texten haben, wenngleich
dieses Alt-Französische zum Teil etwas vom heutigen Französisch
abweicht, doch die Mühen der Übertragung ins Deutsche hat uns Ralph
Dutli ja dankenswerterweise abgenommen.
Die "Fatrasien" bestehen im französischen Original fast immer aus elf
Versen, die sich nach dem Schema aabaab/babab reimen. Die Herkunft des
Namens "Fatrasie" scheint nicht eindeutig geklärt. Ursprungsort für die
meisten überlieferten "Fatrasien" ist die im Norden Frankreichs gelegene
Stadt Arras. 55 anonyme "Fatrasien" aus Arras sowie elf "Fatrasien" aus
der Feder des Aristokraten Philippe de Beaumanoir machen den
Hauptbestandteil dieses Bandes aus. Viel mehr existiert wohl auch nicht,
da der "Fatrasie" nur eine kurze Blütezeit beschieden war, sie feierte
jedoch noch einmal eine (vorübergehende) Auferstehung in der Gattung des
'Fatras'. Fünfzehn von diesen "Fatras", die auf den aus Belgien
stammenden Autor Watriquet Brassenel de Couvin zurückgeführt werden,
finden sich neben einigen anderen in diesem Band.
Worum geht es nun aber in diesen "Fatrasien" bzw. "Fatras"? Steckt etwas
dahinter? Lauert hinter all dem Unsinn letztendlich noch ein verborgener
Sinn? Stets wiederkehrende Motive dieser kurzen Gedichtformen sind
zunächst einmal Fäkales, Obszönes und auch Hybrides wie beispielsweise "eine
vom Schwein geborene Kuh", ein "von einer Ente geborenes
Mutterschaf" oder "Rebhühner, die Füße von Schafen haben".
Überhaupt scheinen Tiere hier eine große Rolle zu spielen. Die
Ausdrucksweise ist von einer derben, ungehobelten Art, es wird gefurzt,
gefickt, Dünnschiss gekackt, Bratpfannen werden vollgepisst, behaarte
Mösen und nackte Ärsche beschworen und so weiter. Der Spott der
"Fatrasien" richtet sich dabei vor allem auf den Adel und die
Geistlichkeit. Das Paradox, das dem Augenschein nach Unvereinbare
beherrscht diese dichterischen Kleinode des Mittelalters. "Das
Paradox ist schärfster Ausdruck der Komplexität allen psychischen
Geschehens", formuliert Ralph Dutli in seinem vorzüglichen
Nachwort, und dem muss man wohl beipflichten. Eine merkwürdige
Ambivalenz ist den "Fatrasien" zu eigen, auf der einen Seite beschwören
sie unverhohlen die Apokalypse herauf, auf der anderen Seite lässt das
Zusammenfügen des Unvereinbaren aber auch - wie schon in der biblischen
Offenbarung - positive Deutungen zu, positiv im Sinne einer
möglicherweise zu erwartenden utopischen, neuen und besseren Welt, in
welcher Humor und Gelächter die Traurigkeit verdrängen könnten.
Ralph Dutli würdigt in seinem als Nachwort angehängten Essay "Fliegende
Esel" die "Fatrasien" und "Fatras" als "Prunkstücke entfesselter,
respektloser, karnevalesker Lachkultur." Dutli findet immer neue
Epitheta, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, wobei er sich
auch wohl die eine oder andere Übertreibung gestattet. Haben wir es hier
wirklich mit einem "Genussgift ersten Ranges für Poeten,
Literaturliebhaber und Leser" zu tun? Mit Poesie "von einer
staunenmachenden, bizarren Schönheit"? Herrscht hier tatsächlich "eine
durchtriebene Dramaturgie, die Entwicklung und Enthüllung einer
Unordnung, eines dynamischen, paradoxen Ganzen"? Die Begeisterung
des Herausgebers und Übersetzers spricht quasi aus jeder Zeile seines
überaus interessanten, informativen und ausführlichen Nachwortes, das
allein schon den Kauf dieses Buches rechtfertigt. Was die "Fatrasien"
selbst angeht, so vermag der Rezensent den Überschwang des Herausgebers
nicht ganz zu teilen. Zu platt, zu naiv, allzu vordergründig erscheinen
mir viele der Verse in diesem Buch. Was soll man auch halten von so
banalen Konstruktionen wie einem "einheimischen Fremden", "zwei
hässlichen schönen Männern", von "klugen Hohlköpfen", von
"einem großen Mann, der ein Zwerg war", von einem "Kothaufen
ohne Scheiße" oder einem "weißen Rock von schwarzer Farbe"?
Das ist alles Andere als ein "Fest purer Poesie" (Ralph Dutli),
das verdient nicht einmal das Prädikat absurd. Das ist einfach nur
platt.
So findet der Leser in den "Fatrasien" also neben Hochwertigem auch
Banales, neben Überraschendem und Originellem auch Klischeehaftes. Das
nimmt den "Fatrasien" letztendlich aber kaum etwas von ihrem
eigentümlichen Reiz, von ihrer bemerkenswerten Frische und Spritzigkeit,
die sie sich über die Jahrhunderte hindurch bis heute erhalten haben.
Ralph Dutlis "Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters": ein Buch
sowohl zum Lesen als auch zum Verschenken.
(Werner Fletcher; 08/2010)
Ralph
Dutli: "Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters"
Mit einem Essay von Ralph Dutli
Wallstein Verlag, 2010. 144 Seiten.
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