Nurrudin Farah: "Bruder Zwilling"
Stillleben - die
1970er-Jahre in Somalia und die Diktatur
Nuruddin Farahs 1979 unter dem Originaltitel "Sweet and Sour Milk"
veröffentlichter zweiter Roman beginnt mit dem Tod von Soyaan, der in
den Armen seines Zwillingsbruders Loyaan stirbt. Loyaan spürt schnell,
dass sein Bruder, entgegen allen Behauptungen, kein treuer
Regierungsmitarbeiter war, sondern dass er ein Doppelleben geführt hat.
Unklarheit über die wirkliche Todesursache und ein Interview des Vaters,
in dem er fälschlicherweise behauptet, beim letzten Atemzug Soyaans
anwesend gewesen zu sein, sind mehr als genug Indizien für Loyaan, um zu
verstehen, dass hier dunkle Seiten verborgen liegen, Geheimnisse, die er
lüften möchte.
In diesem Interview mit der regierungstreuen Tageszeitung behauptet der
Vater, dass Soyaans letzte Worte "Arbeit ist Ehre, und es gibt
keinen General außer unserem General" gewesen wären, was auf
absurde Weise zu einer posthumen Ehrung und der Benennung einer Straße
nach Soyaan führen soll.
Loyaan will sich nicht damit abfinden, die Ehre seines Bruders durch
diese posthume Schönredung politisch eingefärbt zu sehen und begibt sich
auf eine abenteuerliche, gefährliche Reise ins Epizentrum der Macht und
Gewalt, um seinen Bruder von der Ehre der Staatstreue reinzuwaschen. Auf
diesem Weg wird er von vielen Menschen auf Teilstücken begleitet, unter
Anderem auch von Soyaans letzter Freundin.
Zudem ist das Verhältnis zum gemeinsamen Vater, der seine Familie nach
vielen Jahren wegen einer Zweitfrau verlassen hat, der aber trotzdem
beansprucht, eine Art "Zweitgeneral" zu sein, mehr als gespannt.
"Die Methoden des Generals sind nicht anders als die des KGB, das
kann ich Ihnen sagen. Befehle: Kenne jeden, der dich nicht kennt.
Pflanze die Saat des Misstrauens in jeden denkenden Verstand und mach
ihn so 'nicht denkend'."
In fast jeder Zeile spürt man die Ohnmacht des um jeden Preis gegen die
Diktatur und Gewalt Anrennens. Auch traditionelle Riten und
Stammesbräuche werden, in Gegenüberstellung zur Diktatur, erklärt,
teilweise auch angeklagt. So schlägt sich Loyaan entgegen der Anweisung
des Vaters auf die Seite seiner Mutter und Schwester.
"Jetzt sagte er: Soyaan sagte immer, wenn wir auch die Hernie der
Unfähigkeit nicht restlos beseitigen können, so können wir doch
versuchen, die Pusteln am Körper dieses politischen Systems zum Bluten
zu bringen. Wir haben ein schwieriges Problem zu lösen ..."
Nuruddin Farah erzählt so eine spannende und brutal grausame Geschichte
der Auflehnung im Sinne der moralischen Integrität, eine Erzählung, die
er jedoch immer wieder bewusst durch surreal anmutende Gedankenströme
aufbricht bzw. durch bewusst gesteuertes Verwischen der Erzählstruktur.
Komplexe Prosa, die jedoch immer wieder von fast banalen und literarisch
inkohärent anmutenden Momenten gestört wird. Dadurch entsteht ein
bruchstückhafter Gestus, der im Gesamtbild dann doch zu wenig zwingend
ist. Hinweise und Verbindungen zur Mythologie Afrikas sowie Parallelen
zum Koran erweitern die Bandbreite von Nuruddin Farahs Prosa.
Die immer wieder, quasi als Leitmotiv der Doktors, in Erinnerung
gerufenen Folterszenen sind detailgenaue Belege für die grausame
Unmenschlichkeit der empathielosen Mitläufer und Opportunisten, die
speziell in Diktaturen leicht zu finden sind.
Dem Rezensenten drängt sich jedoch die Frage auf, ob die politische
Seite dieses Romans nicht zu sehr Mittel zum Zweck ist, bzw. ob sich die
Erzählung nicht zu sehr der Bemühung unterordnet, eine politische
Aussage abzugeben. Zu offensichtlich verschwindet die Erzählung zu
Gunsten politischer Erklärungen in der zweiten Reihe.
"Der Meister der Großen Bedeutungslosigkeit? Nein, Medina irrt sich.
Dieser Mann mordet. Dieser Mann hat genaue Pläne für unser Leben.
Dieser Mann kann einen Menschen ausradieren und dann seine Seele in
Besitz nehmen und ihn dann in den Augen seiner Freunde und derjenigen,
die mit ihm gearbeitet und protestiert haben, diskreditieren ..."
Je weiter Loyaan in dieses Netz der Intrigen und Gewalt eindringt, desto
undurchsichtiger wird das, was der Leser wahrnimmt. Verbindungen zum KGB
erweitern das Netz, das möglicherweise doch zu viel strapaziert wird.
"Bruder Zwilling" ist ein wichtiger, früher Roman eines großen und
wichtigen Schriftstellers, der hier schon viele Ansätze seiner reifen
Werke erkennen lässt; ein Roman, der jedoch noch einige Unstimmigkeiten
aufweist. Ein Roman, der zu viel will und dadurch nicht das erreicht,
was er, mit feinerem Pinsel aufgetragen, erreichen hätte können. Eine
stilistische Einzigartigkeit, die Nuruddin Farah in späteren Romanen
präzise und überzeugend verfeinert hat.
(Roland Freisitzer; 07/2010)
Nurrudin Farah: "Bruder Zwilling"
(Originaltitel "Sweet and Sour Milk")
Deutsch von Martin Hielscher.
Suhrkamp Taschenbuch, 2010. 347 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Links"
Staatszerfall, Bandenterror, die innere Zerrissenheit afrikanischer
Nationen - was uns nur schlagwortartig bekannt ist, fügt sich in diesem
Roman von Nurrudin Farah zu einem meisterhaft gezeichneten, manchmal
alptraumhaften Panorama seines Heimatlandes Somalia, zu einer
exemplarischen Geschichte von verrohten Herzen und dem Wert der
Menschlichkeit. "Links" erzählt von Jeebleh, der aus dem New Yorker Exil
nach Mogadischu zurückkehrt und eine vom Bürgerkrieg korrumpierte
Gesellschaft vorfindet, die er nicht mehr versteht, in der er niemandem
trauen kann, schon gar nicht den eigenen Verwandten. Und dennoch, trotz
der Gewalt, trotz der sozialen Apathie, trotz der widerwärtigen
Herrschaft der Clans gibt es Hoffnung - verkörpert von einem
kleinen Mädchen. (Suhrkamp Taschenbuch)
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"Tochter Frau"
Frauen - Töchter, Mütter, Schwestern - stehen im Mittelpunkt des zweiten
Teils von Nuruddin Farahs Trilogie. Die Journalistin Medina, die mit
ihrer kleinen Tochter ihr Zuhause verlässt, um zu verhindern, dass die
streng islamische Schwiegermutter das Mädchen beschneiden
lässt. Oder Sagal, die Nationalschwimmerin, die davon träumt, ins Exil
nach Europa zu gehen. Es ist die stille Revolte innerhalb der
Häusermauern - Frauen auf der Suche nach einem Platz in der von Diktatur
gezeichneten Gesellschaft Somalias. (Suhrkamp Taschenbuch)
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"Vater Mensch"
Deeriye ist ein Held des somalischen Widerstands, der während der
italienischen Kolonialherrschaft viele Jahre im Gefängnis verbringen
musste. Inzwischen ist er alt und krank und lebt zurückgezogen im Haus
seines Sohnes Mursal, eines Juraprofessors. Mursal wird zur treibenden
Kraft einer kleinen oppositionellen Gruppe im Untergrund. Aber als die
Aktionen der Verschwörer scheitern und Mursal getötet wird, entschließt
sich Deeriye, der sein Leben lang Gewalt
verabscheut hat, die Gerechtigkeit in eigene Hände zu nehmen. Er
riskiert ein verzweifeltes Attentat auf den General. (Suhrkamp
Taschenbuch)
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"Netze"
Cambara, eine willensstarke Frau, beschließt, aus ihrer Wahlheimat
Toronto in ihr Geburtsland Somalia zurückzukehren. Ihr geliebter Sohn
ist durch die Unachtsamkeit ihres Mannes ums Leben gekommen, doch die
Reise ist nicht nur eine Flucht: Cambara will das alte Anwesen ihrer
Familie den Händen eines Warlords entreißen. Das Mogadischu, in
das sie kommt, ist schwer gezeichnet vom Bürgerkrieg: Jugendliche
mit automatischen Waffen patrouillieren die Straßen, Clan-Rivalitäten,
Langeweile und das allgegenwärtige Kaat haben die einstmals lebendige
Stadt im Griff, islamistische Gruppen nutzen die Lähmung, um Einfluss zu
gewinnen. Doch nach und nach gelingt es Cambara, Verbündete zu gewinnen
- Heldinnen der Vernunft in einer Welt der Zerstörung.
"Netze" ist ein bestürzendes und zugleich hoffnungsvolles Buch mit einer
unvergesslichen Hauptfigur, deren persönliche Reise in die Vergangenheit
ein Zeichen für eine bessere Zukunft setzt. Ein Roman über die
Realitäten hinter dem Schlagwort vom "Zerfallenen Staat". (Suhrkamp)
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"Gekapert"
zur
Rezension ...
Noch ein Lektüretipp:
Walter Feichtinger und Gerald Hainzl (Hrsg.): "Somalia. Optionen -
Chancen - Stolpersteine"
Vor 20 Jahren versank Somalia im Bürgerkrieg, lokale Friedensbemühungen
blieben bislang ebenso erfolglos wie Initiativen der Nachbarn und der
internationalen Staatengemeinschaft. Neue und innovative Ansätze, wie
sie in diesem Band behandelt werden, sind daher erforderlich, soll nicht
ein Teil dieses Landes im Chaos gefangen bleiben und gewaltbereite
Extremisten, Terroristen und kriminelle Banden auf Dauer einen sicheren
Hafen für ihre Aktivitäten finden. (Böhlau)
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