Norman Domeier: "Der Eulenburg-Skandal"

Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs


Die Geburtsstunde der deutschen Öffentlichkeit

Liest man die Forschungsschwerpunkte des Autors auf der Institutsnetzseite, so hat man gewissermaßen die Synopse des Buchs vor Augen: "Kultur- und Politikgeschichte der europäischen Moderne mit transnationaler Perspektive; insbesondere die Rolle von Öffentlichkeit und Medien sowie die Geschichte der Wandlungen von Werten, Normen und Moral".

Der Anlass ist auch schnell erzählt: "Eine 'Liebenberger Kreis' genannte Runde um Philipp Fürst zu Eulenburg und General Kuno Graf von Moltke wurde 1906 von dem Journalisten Maximilian Harden in dessen Zeitschrift 'Die Zukunft' beschuldigt, eine Kamarilla in homoerotischem bis homosexuellem Klima um den Kaiser herum gebildet zu haben." In diesem Satz stecken die an sich bereits politisch unerhörte Existenz einer Kamarilla und das moralische Skandalon der Homosexualität in den Sphären preußischen Militärs und preußischer Regierung. Man hat es hier mit einem mikrohistorischen Szenarium par excellence zu tun, denn in Gerichtssaal und Presse spiegelten sich preußische, (im Widerstreit mit Bayern) deutsche und europäische Befindlichkeiten sowie Selbst- und Fremdeinschätzungen wider. Der Eulenburg-Skandal war als deutsche Variante der Dreyfuss-Affäre gewissermaßen erwartet worden, ist zu lesen. Das moralische Urteil hielt Einzug in das öffentliche Bewusstsein, und so kann man diesen Vorgang als "Initialzündung für eine moderne, kritische Öffentlichkeit" bezeichnen. Die naive Reaktion des Kaisers und seiner Minister machte es erst möglich, dass sich der Vorgang zu einem handfesten politischen Skandal entwickelte, der die Fragwürdigkeit der Staatsführung deutlich herausmodellierte.

Dieser ganze Vorgang steht der gängigen Einschätzung entgegen, dass Presse erst im alliierten Nachkriegsdeutschland reifen konnte. "Hinsichtlich der Pressefreiheit", so der Autor, "gilt Deutschland nach wie vor als verspätete Nation." Norman Domeier führt im Weiteren aus, dass das gängige Bild einer Ausbildung der vierten Gewalt durch die re-education nach 1945 nicht das ganze Bild zeige. Vielmehr habe sich die Presse schon zu Zeiten des Moltke-Harden-Prozesses eine gewisse Selbstbeschränkung auferlegt, und das Recht auf Berichterstattung ergab sich bereits aus dem öffentliches Interesse thematisierenden § 193 des Reichsstrafgesetzbuches aus dem Jahre 1872. Auch wenn die Gerichte diesen Paragrafen enger auslegten als die Journalisten, kann man durchaus von einer zunehmenden "Emanzipation deutscher Journalisten von der Obrigkeit sprechen".

Maximilian Harden konnte im November 1906 durch eine indirekte Drohung mit halben Worten in der Presse Eulenburg dazu bringen, dass er sich für eine Weile in die Schweiz zurückzog. Als er Januar 1907 jedoch überraschend nach Berlin zurückkehrte, wurde Harden deutlicher. Dabei wusste er bereits, dass Skandale machbar waren und kostete dies hemmungslos aus. Ganz ohne politische Rückendeckung konnte die Presse noch nicht agieren. Doch mit einer Sexualität außerhalb der öffentlichen Norm konnte man jeden Menschen gesellschaftlich vernichten. Berlin schickte sich an, Paris, London und Rom in "Ausschweifung, Überreiztheit und Dekadenz" den Rang abzulaufen, das einst so tugendhafte "preußische Sparta" wurde zum "Babylon an der Spree". Die konservative Presse machte übrigens die Sozialgesetzgebung für diese Entwicklung mit verantwortlich, da diese die Bevölkerung der Verantwortung enthebe und den Sinn freimache für die Laster. Der Grad der Polemisierung der ganzen Affäre lässt sich an dem Satz Hardens absehen: "Ist es normal, dass man vom Deutschen Kaiser als vom 'Liebchen' spricht?" Und so wankte die Gesellschaft angesichts des Prozesses und seiner Enthüllungen ständig zwischen Homophobie und heterosexueller Promiskuität, die der landläufigen Meinung zufolge einer drohenden Homosexualität entgegenwirken könne. Dass die Gralshüter der Sexualmoral da kaum noch zu Atem kamen, erscheint logisch.

Insgesamt eine sehr lobenswerte mentalitätsgeschichtliche, mikrohistorische Arbeit, die, obwohl sie ein wenig abseits der historischen Gravitationszentren angesiedelt scheint, doch einen tiefen Einblick in Zeit und Geist gewährt. Es mag bei einem wissenschaftlichen Werk ungewöhnlich klingen, doch der Autor baut geschickt einen Spannungsbogen auf, sodass das Buch sich stellenweise wie ein historischer Krimi liest. Auch hier anzutreffende kleinere Bemerkungen zu den Irrtümern der Kollegen bleiben bei Historikern üblicherweise nicht aus. Und die im Buch aufgeführten Desiderate dürften für ein erfülltes Historikerleben ausreichen, und so dürfte dem Autor der Stoff nicht ausgehen. Den Leser wird's freuen.

In der Bewertung der Akteure hält sich der Autor auf professionelle Weise zurück, und es mag sich der Leser selbst sein Urteil über die Protagonisten bilden. Wie schrieb doch der unbestechliche Karl Kraus so treffend: "Der Prozess Harden-Moltke ist ein Sieg der Information über die Kultur." Sein unmittelbar folgendes Fazit möge auch die Rezension beschließen: "Um in solchen Schlachten zu bestehen, muss die Menschheit lernen, sich über den Journalismus zu informieren."

(Klaus Prinz; 10/2010)


Norman Domeier: "Der Eulenburg-Skandal.
Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs"

Campus Verlag, 2010. 433 Seiten.
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Norman Domeier, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Historischen Institut der Universität Stuttgart.

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Peter Winzen: "Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907-1909"

Dass die Homosexualitätsskandale 1907-1909 zu einer nachhaltigen Erschütterung des wilhelminischen Kaiserreichs führten, darüber besteht in der Forschung heute ein breiter Konsens. Weitgehend unklar blieben allerdings die politischen Hintergründe jener mit den Namen des prominenten politischen Publizisten Maximilian Harden und der beiden einflussreichen Kaiserfreunde Kuno Moltke und Philipp Eulenburg verknüpften Sensationsprozesse. Sind die Prozesse, wie in der historischen Literatur vielfach angenommen, primär als der Rachefeldzug Hardens und des mit ihm verbündeten Friedrich von Holstein gegen den Fürsten Eulenburg zu verstehen, dem eine unheilvolle Beeinflussung des Kaisers in außen- und personalpolitischen Angelegenheiten nachgesagt wurde? Oder stand hinter der publizistischen Kampagne gegen den Kaiserintimus gar Reichskanzler Bülow, der durch die öffentliche Verunglimpfung des einst mächtigsten Mannes im Kaiserreich einen für ihn gefährlichen Konkurrenten um das Reichskanzleramt eliminieren wollte? Auf der Basis umfangreicher archivalischer Recherchen kann das vorliegende Buch die bis heute offenen Fragen schlüssig beantworten und dabei völlig neue Zusammenhänge aufdecken. (Böhlau)
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