Tom Standage: "Der Mensch ist, was er isst"

Wie unser Essen die Welt veränderte


Eine ungewöhnliche Art kulinarischen (Zeit-) Reisens

In den Industrieländern muss sich praktisch niemand Sorgen um das tägliche Brot machen. Im Gegenteil, wir nehmen eher zu viele als zu wenige Kalorien auf und leiden an Krankheiten, die sich zu einem guten Teil auf eine Fehlernährung durch Überfluss zurückführen lassen - eine in der Menschheitsgeschichte ungewöhnliche Situation. Denn der größte Teil unserer historisch nachvollziehbaren Vergangenheit war von Mangel geprägt.

Tom Standage zeigt in seinem Buch "Der Mensch ist, was er isst" auf, wie das Bestreben der Menschen nach ausreichend Nahrung die Geschichte beeinflusst hat. Insbesondere in den ersten Kapiteln geht es dabei um den Übergang von Jäger-Sammler-Gemeinschaften zu einer sesshaften Lebensweise, die mit dem Aufkommen der Landwirtschaft einherging. Der Autor geht der Frage nach, was die Menschen mehrheitlich dazu gebracht hat, von der relativ wenig aufwändigen Jäger-Sammler-Kultur mit ihrem vielseitigen Nahrungsangebot abzurücken und eine hinsichtlich des Klimas und anderer Faktoren extrem störanfällige und mit einseitiger Ernährung verbundene, auf Getreideanbau basierende Lebensform anzunehmen. Vor allem aber stellt er die gewaltigen sozialen Veränderungen vor, die mit dieser Umwälzung einhergingen, insbesondere die Entstehung komplexer arbeitsteiliger, hierarchisch durchstrukturierter Gemeinwesen. Diese konnten nur existieren, weil die Bauern Nahrungsüberschüsse erzeugten, die von einer Elite verwaltet und umverteilt wurden.

Interessant sind auch die Wege, die verschiedene Nahrungsmittel im Lauf der Geschichte genommen haben, als Siedler, Sieger oder Reisende sie in neue Regionen verbrachten und dort ihren Anbau anstießen. Hierbei zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel der Kartoffel, dass neue Anbaugebiete unter Umständen innerhalb weniger Generationen eine regelrechte Revolution erfuhren, da hohe Erträge an Kalorien aus der neuen Pflanze die in der Landwirtschaft gebundenen Arbeitskräfte zu einem erheblichen Teil freisetzten und damit die Industrialisierung des Westens erst ermöglichten. In einem weiteren Abschnitt des Buchs zeigt der Autor hingegen auf, dass Missernten wie jene der Kartoffelfäule in Irland geschuldeten in den 1840er-Jahren gleichfalls politische und soziale Umwälzungen zur Folge haben konnten.

Einen weiteren Aspekt des Zusammenspiels zwischen Mensch und Essen untersucht das Kapitel "Essen als Waffe", worin es einerseits um die komplexe Logistik in Kriegen geht, die eine ausreichende Versorgung der Soldaten ermöglichen musste (und in vielen Regionen heute noch muss), andererseits um Beispiele von Diktaturen, die eine restriktive Essenszuteilung an missliebige Bevölkerungsteile als Waffe gegen diese nutzten.

Und auch der abschließende Teil hält manche überraschende Erkenntnis parat. Es geht darin um das Bevölkerungswachstum und die natürlichen Grenzen, die ihm durch die Nahrungsressourcen gesetzt werden, die sich jedoch immer wieder umgehen ließen.

Essen ist ein Thema, an dem im Grunde jeder Mensch ein existenzielles Interesse hat. Dem Anteil der Weltbevölkerung, der im Wohlstand lebt, wird dies jedoch nur selten bewusst. Vor allem aber machen sich nur wenige Menschen darüber Gedanken, welch tief greifenden Einfluss das Essen in jeder Hinsicht auf die Entwicklung der Menschheit genommen hat und dass alle unsere sozialen Gefüge im Grunde davon abhängen, welche Bedeutung die Beschaffung von Nahrung für die jeweilige Volkswirtschaft hat.

Kurzweilig und gut verständlich, dabei sehr fundiert erläutert der Autor die historischen, sozialen und kulturellen Zusammenhänge zwischen dem Menschen und dem, was er isst. Dabei stellt er gelegentlich auch mehrere Theorien vor, wenn die Wissenschaft bislang zu einem Thema noch keinen Konsens erzielt hat, und er greift auf aktuelle Erkenntnisse zurück. So bietet er dem Leser einen spannenden Überblick, der den Blick aufs Essen in jeder Hinsicht zu verändern vermag und vor allem die lange und manchmal bizarr wirkende soziokulturelle Co-Evolution von Mensch und Nahrung deutlich macht. Nachdenklich stimmen auch jene Abschnitte, die drastisch aufzeigen, welche historischen Scheußlichkeiten mit ehemals luxuriösen Lebensmitteln, etwa Zucker und Gewürzen, verknüpft sind - Sklavenhandel, Unterdrückung, brutale Vernichtungskriege.

Ein so informatives wie spannendes Buch, dessen Lektüre bestens zu empfehlen ist!

(Regina Károlyi; 09/2010)


Tom Standage: "Der Mensch ist, was er isst. Wie unser Essen die Welt veränderte"
Übersetzt von Michael Schmidt.
Artemis & Winkler, 2010. 280 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Sechs Getränke, die die Welt bewegten"

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