Wilfried Eggers: "Paragraf 301"


Ein vor Jahrzehnten begangener Völkermord wirkt bis heute und sogar bis ins tiefe norddeutsche Moor nach

Der Rechtsanwalt Peter Schlüter beginnt sich in seinem Leben zu langweilen. Die Ehe mit seiner Frau scheint perfekt - wenn auch kinderfrei - zu funktionieren, seine Kanzlei läuft gut, er hat sich aus den Strafgerichtssachen verabschiedet, um weitere professionelle Deformationen zu vermeiden, und verbringt mit seiner Frau einen großen Teil seiner freien Zeit damit, die hauseigene Bibliothek, für deren Erweiterung die Nebenwohnung mit angemietet wurde, weiter aufzufüllen. Mit knapp fünfzig zeichnet sich sein Leben besonders durch nicht vorhandene Aufregung aus. Ein Zustand, der durch das Abbestellen von Tageszeitungen noch unterstützt wird.

Da taucht eines Tages ein türkischstämmiger Mitbürger bei ihm auf, der ihn bittet, sich um das Ausweisungsverfahren seines Neffen und zukünftigen Schwiegersohns zu kümmern, der nämlich fälschlicherweise in der Türkei wegen Mordes an einigen Aleviten zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde. Trotz seiner grundlegenden Abneigung gegen Strafsachen beschließt Schlüter nach anfänglichem Zögern, einen Fall auf dem ihm gänzlich unvertrauten Gebiet des Asylrechtes aufzunehmen. Eine Tatsache, die sich schnell herumzusprechen scheint. Denn nur wenig später wird ein Alevite bei ihm vorstellig, der sich selbst illegal im Land aufhält, dem es aber in erster Linie um seinen Neffen geht, der in Deutschland wegen angeblichen Mordes gesucht wird. Hier soll er allerdings erst tätig werden, wenn dieser Neffe erwischt wird.

Da ihm seine beiden Mandanten sehr unterschiedliche Dinge über die Türkei, den Islam und das Alevitentum erzählen, beschließt Schlüter, sich sich eingehend in diese Materien einzuarbeiten und lernt so eine ihm bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannte Welt kennen. Und diese Welt zieht ihn zunehmend in ihren Bann, bis schließlich einer der beiden Auftraggeber tot aufgefunden wird, was es für Schlüter notwendig macht, in der Begleitung eines seiner ehemaligen Strafrechtsmandanten in die Türkei zu reisen, um Recherchen an Ort und Stelle zu betreiben. Eine Tätigkeit, die sich zunächst nur als schwierig, und dann, in einigen eher abgelegenen Gegenden des Landes, als nachgerade gefährlich erweist.

Nicht nur Schlüter, auch der Leser, erfährt in diesem Buch eine Menge über die Situation von aus der Türkei stammenden legal und illegal Eingereisten in Deutschland in der Mitte der 1990er-Jahre, über den Islam, den Koran, das Alevitentum, die Minderheiten in der Türkei und den Umgang damit, und wie es sich in den Kurden- und Zazzi-Gebieten der Türkei heute noch lebt. Dabei wird auch auf die Geschichte dieser Gebiete ab Beginn der Regierungszeit Atatürks eingegangen.

Ein paar Recherchefehler werden in den beiden Nachworten dieser Taschenbuchausgabe korrigiert, und gleichzeitig wird dort auf die weiterhin bestehende Aktualität bestimmter Aspekte des Romans eingegangen. "Paragraf 301" ist ein sehr informatives Buch zu einem komplexen Themenfeld. Hier beherrschen handlungsbedingt natürlich eher unerfreuliche Aspekte massiert das Bild, aber Wilfried Eggers gelingt es trotzdem, innerhalb der Geschichte eine relativ ausgewogene Darstellung zu bieten und dabei immer noch eine interessante Geschichte mit glaubwürdigen Charakteren auf der Seite des Guten zu erzählen - die "Bösen" werden nicht ganz so plastisch dargestellt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2010)


Wilfried Eggers: "Paragraf 301"
grafit, 2010. 476 Seiten.
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