Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich ab"
Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Selten wurde in der
Geschichte der politischen Literatur ein Buch schon so umfänglich
verdammt, bevor es überhaupt auf dem Markt war, und selten waren sich
nach der Veröffentlichung so viele Menschen, die sich nicht in
offiziellen Positionen befinden, darin einig, dass es sich um ein
wichtiges, anregendes und auch in nützlicher Weise provozierendes Buch
handelt. Interviewaussagen des Autors wurden mit den Buchinhalten
verknüpft, einige Autorinnen und Autoren, deren Titel Themen aus diesem
Buch berührten, änderten noch kurz vor der Veröffentlichung ein paar
Sätze, um sich von diesem Buch zu distanzieren - so etwa Ayyan Hirsi Ali
und Hamed Abdel-Samad.
"Staaten haben das Recht den Migrationfluss zu regulieren und ihre
eigenen Grenzen zu verteidigen." Dieser Satz steht in ähnlicher
Form im gegenständlich besprochenen Buch an mehreren Stellen, ist an
dieser Stelle aber ein Zitat aus einer Rede Papst
Benedikts
XVI., die er am "Welttag der Migranten und Flüchtlinge" hielt.
Thilo Sarrazin hat sich in zwei Kapiteln intensiver mit der Frage der
Migration und ihrer Auswirkungen auf Europa allgemein und auf
Deutschland speziell beschäftigt, und das sind genau die Kapitel, die
eine beachtliche Kontroverse in den deutschen Medien angestoßen haben.
Er vergleicht Migrations-, Kriminalitäts-, Transferbezugs-, Bildungs-
und Geburtenraten von verschiedenen Migrantengruppen in verschiedenen
europäischen Ländern wie auch in Australien sowie den USA und stellt
ganz richtig fest, dass ein solches Vorgehen in Deutschland speziell
nicht politisch opportun ist. So werden nach seiner Darstellung
Migranten in offiziellen Statistiken selten in Verbindung mit ihren
Herkunftsländern betrachtet, was Sarrazin als großen Fehler ansieht, der
in vielen anderen Ländern nicht gemacht wird. Er findet die für
Deutschland riskantesten Migranten im muslimischen Lager und greift
dabei in seiner Beweisführung auf die Arbeiten von
Necla Kelek, Frau Ates, Hirsi Ali, Abdel-Samad und Anderer zurück.
Und auf Artikel der "Süddeutschen Zeitung", der "FAZ", des "SPIEGEL" und
des "FOCUS", also auf jene Printmedien, die sein Buch daraufhin unter
Beschuss nahmen.
Doch "Deutschland schafft sich ab" hat neun Kapitel und nicht nur zwei,
und die anderen sieben Kapitel sind mindestens genauso diskussionswürdig
wie diejenigen, welche bereits so ausgiebig bearbeitet wurden. Nach dem
relativ gelungenen Abriss zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft in
Deutschland und einem Blick in eine spekulative mögliche Zukunft
bemüht sich Thilo Sarrazin im dritten Kapitel zunächst um eine
Bestandsaufnahme der Situation Deutschlands im Jahr 2010. Diese fällt
ziemlich matt aus, was den Leser aufgrund der Nachrichten der
vergangenen Jahre nicht sonderlich überraschen dürfte. Im vierten
Kapitel beschäftigt sich der Autor mit den Fragen von Armut und Ungleichheit
in unserer Gesellschaft, wobei ihm eine differenzierte Definition des
Begriffs "Armut" sehr am Herzen liegt, und versucht darzulegen,
inwiefern die Struktur unserer Transferleistungen und die
Bildungspolitik eines "Förderns ohne Fordern" eine Unterschicht nicht
nur zementiert, sondern auch beständig anwachsen lässt. Diese Aspekte
behandelt Sarrazin anschließend in den Kapiteln "Arbeit und Politik"
(Bezug auf Transferleistungen und Arbeitsanreize, bzw. deren Fehlen für
einen Teil der Bevölkerung) und "Bildung und Gerechtigkeit" ausgiebiger,
wobei er gerade bei Letzterem mit Bezügen zu den Ergebnissen der
Lernstandserhebungen in den achten Klassen und den internationalen "PISA"-Studien
einige interessante Daten in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, die
sonst in der öffentlichen Diskussion eher nicht in dieser Art und Weise
miteinander verknüpft wurden. Hier bietet er bereits einige Ideen zur
Reform der Schulpolitik in Deutschland sowie zur Verbesserung der
Ausbildung im naturwissenschaftlich-technischen Bereich.
Kapitel 7 ist das bereits so viel diskutierte, gefolgt von einem
Kapitel, das aus den vorhergehenden Abschnitten Überlegungen zur
demografischen Entwicklung Deutschlands ableitet - und wie man dieser
eventuell begegnen könnte.
Das letzte Kapitel stellt in satirischer Überhöhung einen möglichen
Albtraum in der weiteren Entwicklung Europas und dann einen möglichen
Traum dar - zumindest, wenn der Träumer Thilo Sarrazin heißt. Hier muss
man bedenken, dass der Autor bewusst satirisch überhöht und dies auch
vor den beiden Visionen ankündigt. Laut
Tucholsky wissen wir ja, was Satire darf - oder etwa nicht.
Was bleibt? Viele Statistiken, viele Grafiken, 34 Seiten Endnoten mit
Quellenverweisen und Quellenbelegen, Personen- und Sachregister sowie
die Bestätigung und Zusammenfassung von vielem, was man in
unterschiedlichen Zeitungen und Magazinen in den vergangenen zwanzig
Jahren an Informationen finden konnte; von der Überalterung der
Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten, die bereits im "WIENER" und
im "SPIEGEL" in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren Thema war,
über etliche Zeitungs- und Fernsehberichte über das Erschleichen von
Transferleistungen bis hin zu den Ergebnissen von Untersuchungen
kriminologischer Institute zur Kriminalität und Gewaltbereitschaft
bestimmter Migrantengruppierungen, wie man sie zum Beispiel im Jahr 2009
unter Anderem auf den Titelseiten der "Süddeutschen" finden konnte.
Dabei ist Sarrazin eigentlich sehr vorsichtig im Gebrauch des
Konjunktivs und weist oft auf die Interpretationsspannweite der von ihm
gesammelten Daten hin, so dass sich direkte Anwürfe gegen seine
Äußerungen immer der Gefahr des ungenauen Lesens ausgesetzt sehen. Und
auch bei seinen negativen Prognosen weist der Autor immer wieder darauf
hin, dass es sehr viele Faktoren gibt, die man nicht vorhersagen kann.
"Deutschland schafft sich ab" ist ein Buch, das die allgemeine
Diskussion zu verschiedenen Themen in
Deutschland stark befördert hat und bei gründlicher Lektüre auch
noch mehr befördern wird. Die darin enthaltenen Angriffe auf viele
Politiker und Gesellschaftsgestalter dürften die heftige Kritik gerade
dieser Personengruppen gegen die Publikation zum Teil erklären; noch
dazu, weil sie ja gewissermaßen aus ihrer eigenen Mitte kommen, was
Thilo Sarrazin zu einer Art Nestbeschmutzer macht. Ob Sarrazin mit allem
Recht hat - oder auch nur mit vielem - sei dahingestellt, wie er es
gelegentlich an einigen Punkten selbst tut. Aber man sollte das Buch
wirklich sehr gründlich lesen, ebenso die dazugehörigen weiterführenden
Quellen, bevor man sich in die eine oder andere Richtung ein Urteil
darüber erlaubt.
(N.N.; 11/2010)
Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich
ab.
Wie wir unser Land aufs Spiel setzen"
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2010. 463 Seiten.
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Broschierte Ausgabe:
DVA, 2012.
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Zwei weitere Bücher des
Autors:
"Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in
die Krise geführt hat"
Mit der drohenden Staatspleite einzelner Länder hat der Traum von der
Europäischen Währungsunion seinen Glanz eingebüßt und seine Risiken
offenbart. Angela Merkels Diktum "Scheitert der Euro, dann scheitert
Europa" versucht die Währungsfrage in einen größeren Zusammenhang
zu stellen.
Das tut auch Thilo Sarrazin in diesem Buch, aber auf andere Weise und
mit anderen Ergebnissen. Er zeichnet die verheerenden Resultate
politischen Wunschdenkens nach und stellt die Debatte vom Kopf auf die
Füße. (DVA)
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"Der neue Tugendterror.
Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland"
Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht. Doch im Alltag begegnet man so
manchem Denk- und Redeverbot. Thilo Sarrazin analysiert in seinem Buch
den grassierenden Meinungskonformismus. Wer Dinge ausspricht, die nicht
ins gerade vorherrschende Weltbild passen, der wird gerne als
Provokateur oder Nestbeschmutzer ausgegrenzt.
Mit gewohntem Scharfsinn prangert Thilo Sarrazin diesen Missstand an,
zeigt auf, wo seine Ursachen liegen, und benennt die 14 vorherrschenden
Denk- und Redeverbote unserer Zeit. (DVA)
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Noch ein Buchtipp:
Ursula Sarrazin: "Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin"
Jahrzehntelang unterrichtete Ursula Sarrazin als Grundschullehrerin,
zuletzt im Berliner Stadtteil Westend. Dort wurde sie Opfer einer Mobbingkampagne,
die sie in den vorzeitigen Ruhestand trieb. Ihr Buch ist ein
erschütternder Erfahrungsbericht und zugleich ein engagierter Beitrag
zur aktuellen Schul- und Bildungsdebatte. Sie spricht aus, welchem Druck
Lehrer heute ausgesetzt sind, welche Fehler Behörden, Politiker,
Kollegen und Eltern im wichtigsten gesellschaftlichen Bereich - der
Erziehung - tagtäglich machen.
Ursula Sarrazin prangert die Gleichgültigkeit der Schulbehörden
gegenüber dem aufreibenden Lehreralltag an und wehrt sich vehement gegen
die Auslagerung elterlicher Verantwortung an das Bildungssystem: "Wir
Lehrer können nicht alle gesellschaftlichen Defizite beheben. Schule
ist damit überfordert." Sie formuliert aber auch Lösungswege, die
alle um ein Ziel kreisen: das nachhaltige Wohl der Kinder. (Diederichs)
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