Frédérique Deghelt: "Frühstück mit Proust"


Mögliche Realitäten und vergrabene Träume

"Als Jade die Nachricht erreichte, dass ihre Großmutter Jeanne, ihre geliebte Mamoune, das Bewusstsein verloren hatte, beschloss sie auf der Stelle, sie zu sich zu holen." Kurz entschlossen und wider alle Vernunft folgt die Pariser Enkelin ihren ersten Intuitionen und tut das, wovon sie überzeugt ist, dass es das Richtige ist. Womit sie auch gleich eine existenzielle Frage, die uns alle betrifft, mitbeantwortet: Was ist, wenn unsere Eltern und Großeltern so gebrechlich werden, dass sie nicht mehr alleine leben und für sich sorgen können? Wohin mit ihnen? Wer kümmert sich? Nur nicht ins Heim, denken sie und wir und hoffen, dass der Fall doch nie eintritt. Und dann tritt diese gefürchtete Situation plötzlich ein, schlägt wie ein Blitz aus heiterem Himmel zu, und es bleibt nicht viel Zeit zum Überlegen. Mit diesem Szenario beginnt der Roman der französischen Schriftstellerin und Journalistin Frédérique Deghelt. Klar und entschlossen nimmt er seinen Anfang und entführt uns sachte in die Weiten der ungelebten Möglichkeiten.

Mit Leichtigkeit und Charme entwirft Deghelt für ihre Protagonistinnen die Möglichkeit eines neuen Seins. Denn was wäre, wenn der betagten Großmutter, die ihrer Enkelin in ihrer Kindheit so viel Zärtlichkeit und Geborgenheit geschenkt hat, nun etwas an Achtsamkeit, die sie jetzt so dringend benötigt, zurückgeschenkt wird? Was wäre, wenn diese Großmutter, eine einfache Frau ohne Bildung, plötzlich Seiten zeigt, von denen niemand wusste, und was wäre, wenn es eine gute Erfahrung wäre, etwas von diesem unbekannten Teil zu erfahren? Ein schicksalhafte Fügung, wenn man es so nennen will, hilft dabei über die Schranken von Generationen, Bildung und Lebensentwürfen hinweg. Denn wer hätte gedacht, dass Mamoune, die einfache Bäuerin, Arbeiterfrau und Kindermädchen, ihr ganzes Leben lang heimlich gelesen hat? Diese wiederum ahnt nicht, dass ihre Enkelin an einem Buch schreibt. So finden sich die beiden in ihrer gemeinsamen Liebe zu Büchern und zum Lesen und entdecken, jede auf ihre Weise, das Leben neu. Und auf einmal kann die alte Arbeiterfrau druckreif sprechen, ihre Gedanken formulieren, ihren Gefühlen Ausdruck geben und ihrer Enkelin mit weiser Expertise bei ihren Schreibversuchen zur Seite stehen. Dies mag unglaublich klingen, und ist es auch, aber gleichzeitig werden wir an Träume erinnert, von denen wir wünschten, dass sie wahr werden könnten. Was für ein schöner Traum! Jade entdeckt mit jedem Tag ein Stück mehr von ihrer Großmutter, und ihr Zusammenleben wird zu einer gegenseitigen Bereicherung. Selbst die Gespräche über ihren Roman eröffnen Jade neue Perspektiven, öffnen das Tor zu einem unbekannten Horizont, und zwar dem des Lesers.

Frédérique Deghelt hat ein rundum liebens- und lesenswertes Buch geschrieben, das in seiner Leichtigkeit elementare Fragen aufwirft, (fast) ohne kitschig zu werden. Sie erzählt die Geschichte abwechselnd vom Gesichtspunkt der Enkelin und der Großmutter aus und lässt so zwei Welten mit ihrer Geschichte der Gegenwart und der Vergangenheit entstehen. Den Rahmen bilden die Themen des Lesens und des Alters: Lesen als Bereicherung und als Begegnung mit einem in einem Roman begrabenen Traum, Alter dagegen als behindernde Einschränkung, als Ungeziefer von Zeit, das die Menschen in Kategorien einteilt.

Das alles hat wenig mit dem irreführenden deutschen Titel "Frühstück mit Proust" zu tun. Es geht weder um Proust noch um literarische Diskussionen, sondern "lediglich" um die Geschichte zweier Frauen, die Literatur als Leseabenteuer verbindet. Es geht um zwei Generationen von Frauen mit ihren unterschiedlichen Geschichten und Lebenslinien, aber es ist die Großmutter, bei der es ein großes Reservoir an Möglichkeiten nicht gelebten Lebens zu entdecken gilt. Oder wie die Autorin es Mamoune ausdrücken lässt: "Ich vermisse nicht, was ich noch zu sein glaube und nicht mehr bin, sondern was ich nie geworden bin." Der Buchtitel im Original lautet schlicht und treffend "La grand-mère de Jade". Nicht mehr und nicht weniger.

Die Musilschen Fragen nach dem Sinn für das Mögliche, dem Sinn für die Realität und den Sinn für die möglichen Realitäten, die das ganze Buch begleiten, werden erst ganz zum Schluss beantwortet. Aber was immer es ist, es vergeht und verfliegt, wie Deghelt mit einem Zitat von Marguerite Duras als Vorwort feststellt: "Das Geschriebene kommt wie der Wind, es ist nackt, es ist Tinte, es ist das Geschriebene, und geht vorüber, wie nichts Anderes im Leben vorübergeht, nichts weiter, außer das Leben."

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2010)


Frédérique Deghelt: "Frühstück mit Proust"
(Originaltitel "La grand-mère de Jade")
Aus dem Französischen von Anja Nattefort.
Rütten & Loening, 2010. 288 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Die Liebe der Anderen"

Die Nacht war leidenschaftlich, der Morgen ist schockierend: Marie hat plötzlich drei Kinder - mit dem Mann, in den sie sich eben erst verliebt hat. Kann eine Amnesie wirklich zwölf Jahre eines Lebens ausradieren? Ohne sich ihrem Mann mitzuteilen, versucht Marie durch Briefe, Tagebücher und Fotos das ihr unbekannte Leben zu erforschen und die Liebe der Anderen zu verstehen. (Aufbau Taschenbuch Verlag)
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