Thomas Bernhard: "Goethe schtirbt"
Erzählungen
Makabre Wucht
Der am 12. Februar 1989 verstorbene Autor durfte nicht mehr erleben, wie
sein in einem Gespräch mit seinem Verleger Siegfried Unseld am 17.
Januar 1985 geäußerter Wunsch, einen Erzählband mit dem Titel "Goethe
schtirbt" herauszubringen, realisiert werden könnte. Die zu Beginn der
1980er-Jahre entstandenen und zuerst in diversen Zeitungen publizierten
Erzählungen "zeigen den ironisch abgeklärten Meister der tragischen
Momente und komischen Situationen" (Klappentext) in einer längst
überfälligen Nachlese. Es erscheint nun müßig, darüber zu rechten, ob
die vier Erzählungen notwendigerweise veröffentlicht werden mussten oder
warum dies nun so spät geschehe - zumindest der Titel-Erzählung lässt
sich eine makabre Wucht nicht absprechen. Schön das Sprachspiel mit der
indirekten Rede, welche signalisiert, dass man sich dem Genie Goethe
eben nur auf Umwegen nähern könne. Ein kolossaler Einfall Bernhards ist
die Einladung Goethes an Ludwig Wittgenstein, "den
Verehrungswürdigsten", "mein philosophischer Sohn", dessen
Denken jener eben als das "dem seinigen aufeinmal zunächststehende,
wie das seinige ablösende" bezeichnet habe. Der größte Wunsch
Goethes sei es eben, mit Wittgenstein über "Das Zweifelnde und das
Nichtzweifelnde" zu sprechen. Dieser hatte ja formuliert: "Zweifel
kann nur bestehen, wo eine Frage besteht, eine Frage nur, wo eine
Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann."
Während sich Wittgenstein über das Verhältnis der Sprache
zur Welt Gedanken machte, überschlägt sich Bernhard in sarkastischer
Goethe-Verehrung: Er lässt ihn sagen, er habe das deutsche Theater
zugrunde gerichtet, er habe die deutsche Literatur "für ein paar
Jahrhunderte gelähmt", und seinem "Faust" seien alle auf den Leim
gegangen. Den "Tractatus" habe er ohnehin über seinen "Faust" gestellt.
Ja, Bernhard lässt seinen Goethe
sogar sagen: "Ich bin der Vernichter des Deutschen!" Und seine
letzten Worte seien eigentlich gewesen: "Mehr nicht!" Damit ist die
scheinbare Demontage dieses großen Deutschen perfekt, nachdem die
Österreicher bestenfalls einen Sprach-Spieler als kurzfristig
ebenbürtige Geistesgröße hervorbrachten.
In der Erzählung "Montaigne" geriert sich Bernhard wie ein überdrehter Kafka,
wenn er seinen Ich-Erzähler etwa ausführen lässt: "Den ganzen
Nachmittag hatten die Meinigen mich mit ihren Geschäften gequält und
mir, indem sie ununterbrochen auf mich einredeten oder mir gegenüber
gänzlich geschwiegen hatten, worüber zu reden gewesen wäre,
vorgehalten, daß ich ihr Unglück sei. Daß ich es mir zur Methode
gemacht hätte, gegen sie und gegen ihre Verhältnisse zu sein, gegen
ihre Geschäfte und gegen ihr Denken, welches doch auch das meinige
sei." Das liest sich eine Parodie auf Kafkas verliterarisierten
Verfolgungswahn und auf seine scheinbar selbstzerstörerische
Spezialironie. Alle werfen sich gegenseitig vor, ihre "Vernichter"
zu sein - kann man das Kafkaeske noch hinterfotziger auf die Spitze
treiben?! Der Ich-Erzähler versucht ein Leben lang, sich den Einflüssen
seiner Familie zu "entziehen". Und er schildert, dass es in
deren Augen ein "Verbrechen" sei, eine Bibliothek zu betreten
und ein philosophisches Werk zu entnehmen. Und er beklagt, dass er sich
in eine "Bezichtigungskrankheit" hineingesteigert habe und nicht
mehr wisse, ob er die Wahrheit sage oder eine Lüge. Schließlich
versteigert er sich in die nur scheinbar verzweifelte Aussage: "Ich
habe niemals einen Vater und niemals eine Mutter, aber immer meinen Montaigne
gehabt." Das mag erstaunen oder nicht, hatte doch dieser Erfinder
der "Essais" seine Skepsis eingesetzt zur Wahrheitsfindung und einen der
konsequentesten Sätze der Geistesgeschichte geprägt: "Philosophieren
heißt sterben lernen."
Die Erzählung "Wiedersehen" führt eigentlich diesen anklagenden Ton
weiter, indem hier von zwei Freunden berichtet wird, die ihr jeweiliges
Elternhaus als "Kerker" empfinden. Dabei schiebt er die Härte
der Erziehung auf die Mütter, die Väter verhielten sich eher passiv.
Schließlich sei er, der Erzähler, ausgebrochen, während sein Freund
lebenslang in elterlicher Haft verblieben sei. Die Eltern brachten
überall Unruhe hinein, verweigerten das Denken und "verübelten".
Und er spricht den sarkastischen Verdacht aus, "daß unsere Eltern
uns nur zu dem alleinigen Zweck gemacht haben, damit sie ihre Schuld
auf uns abladen und uns in die Schuhe schieben können." Das ist
Trauerarbeit bis zur Nervigkeit, als Leser wird man sich hier entweder
selbstmitleidig identifizieren, oder man muss einen gewissen
intellektuellen Abstraktionsgrad finden, um die penetrante Larmoyanz zu
ertragen.
Schließlich erfahren wir noch im Text "In Flammen aufgegangen", wie ein
Ich-Erzähler sich auf der "Flucht" in die "sogenannte
Polarkreisnatur" befindet. Er ist auf der "Flucht aus
Österreich", womit wir wieder einmal bei einem Lieblingsthema
Bernhards wären: seine Abneigung gegen sein Heimatland. Und er schimpft
hier gleich pauschal auch gegen das Deutsche und die Europäer - und
schließlich gegen die Religion: "Die katholische
Kirche ist die Weltvergifterin, die Weltzerstörerin, die
Weltvernichterin, das ist die Wahrheit." Und diese Schimpferei
krönt er noch: "Und der Deutsche an sich vergiftet fortwährend die
ganze Welt außerhalb seiner Grenzen und er wird nicht Ruhe geben, bis
diese ganze Welt tödlich vergiftet ist." Also bei aller Liebe zur
Polemik: Das wird ja wohl doch fast schon ein wenig zu primitiv, auch
als Deutscher muss man irgendwann wieder das Recht bekommen, am globalen
Leben teilzuhaben. Und das lassen wir uns von einem Thomas Bernhard
schon gar nicht madig machen.
(KS; 10/2010)
Thomas Bernhard: "Goethe schtirbt.
Erzählungen"
Suhrkamp, 2010. 103 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
"Es ist eh' alles positiv - Die Welt des Thomas Bernhard"
Herausgegeben von Raimund Fellinger.
In dem Interview zu seinem 50. Geburtstag erklärte Thomas Bernhard: "Negativ
ist alles, gibt nicht Positives." Später konstatierte er
lakonisch: "Es ist eh' alles positiv." Ist also Thomas Bernhard
der große Unfassbare, der im gleichen Atemzug Gegenteiliges behauptet?
Ist sein Werk vielleicht finster und sein Autor ein fröhlicher Clown?
Ist er bloß ein opportunistischer Übertreibungskünstler bei allem und
jedem? Oder ist er doch der schärfste Kritiker der politischen
Verhältnisse im Allgemeinen und des "katholisch-nationalsozialistischen
Österreich" im Besonderen?
Der vorliegende Band versammelt kurze und längere Texte von Thomas
Bernhard, er berücksichtigt alle Gattungen - vom Roman bis zum
einzeiligen Leserbrief - und präsentiert das Bernhardsche Werk als einen
Kontinent, auf dem es viele überraschende Entdeckungen zu machen gibt.
Er bietet somit Bernhard-Anfängern wie Fortgeschrittenen, ja sogar den
Spezialisten überraschende und ungeahnte neue Literatur- und
Geisteslandschaften. (Suhrkamp)
Buch bei amazon.de bestellen
Bernhard Judex: "Thomas
Bernhard. Epoche - Werk - Wirkung"
Zu Lebzeiten stets kontrovers diskutiert, ist der österreichische
Schriftsteller Thomas
Bernhard
(1931-1989) zu einem literarischen Klassiker geworden. Das
Arbeitsbuch vermittelt neben einer kurzen Einführung zur Biografie und
literaturgeschichtlichen Stellung einen Überblick über die wichtigsten
Texte Bernhards. Werkanalyse und grundlegende interpretatorische
Deutungsansätze werden durch eine umfangreiche Bibliografie ergänzt.
Damit bietet das Arbeitsbuch Studenten und Lehrenden, aber auch
Literaturinteressierten ein Instrumentarium, das den Zugang zu diesem
Autor wesentlich erleichtert. (C.H.Beck)
Buch bei amazon.de bestellen